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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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hatte Hanne an der Treppe des Wirtshauses gespielt, in dem ihr alkoholisierter Vater und ihre jüdische Mutter wohnten; es war dieses Wirtshaus, das auch als Bordell diente. Als Siebenjährige war sie, ihren kindlichen Tränen zum Trotz, von ihrem Vater gezwungen worden, auf dem Tisch des Bordells zu tanzen, und hatte bleibendes Entzücken bei den Gästen geweckt, von denen einer etwas später zu ihrem Beschützer wurde. Das war, bevor sie die Rolle als Dänemarks gefeiertste Schauspielerin eroberte. Sie hatte unter der Treppe in der Erde gegraben und Regenwürmer gesammelt, die sie später in Regenwasser wusch: ›Wenn ich an meiner geliebten Steintreppe saß, hatte ich oft bemerkt, dass bei feuchtem Wetter die Regenwürmer immer aus der Erde gekrochen kamen. Ich glaubte damals, dass die kleinen Würmer sich danach sehnten, gewaschen zu werden, und um ihnen, so gut ich konnte, dabei zu helfen, dass ihr Wunsch in Erfüllung ging, grub ich stundenlang in der Erde und sammelte so viele, wie ich konnte. Diese Regenwürmer wusch ich, gründlich und liebevoll; ja ich spülte die Regenwürmer mehrmals mit Wasser ab, so dass sie am Ende vollkommen … rein waren.‹
    Er liest diesen scheinbar nichtssagenden, von den Zensoren nicht gestrichenen Abschnitt mit einer eigentümlichen Erregung. Man kann ja sein eigenes Leben nicht verstehen, sie versuchte es trotzdem. Schwester Gerda, jetzt aus seinem Bewusstsein verschwunden, ist trotz seines entschlossenen Vergessens noch da. Er entdeckt sie, wie sie im Rollstuhl auf der Bühne sitzt, in einer fast stummen Rolle: Nur einmal singt sie ihr schmutziges Lied vom Leben der Regenwürmer, als Frau Heibergs Mutter, oder Schwiegermutter, oder als Frau Heiberg selbst. Siehst du nicht, das bin ja ich selbst , sagt Hanne.
    Schwester Gerda hatte sich also doch in ihn eingeschlichen. Liebe kann man ja nie erklären. Wusch nicht auch er die Blutegel, die im Bach unterhalb des grünen Hauses lebten?
    Er erinnert sich nicht.
    Unreine Erinnerungen werden abgewaschen. Blutegel oder Rossegel? Er erinnert sich nicht. Er hat das Recht dazu.

Kapitel 13
SJÖN 3, PARIS
    Er ist jetzt vierundfünfzig Jahre alt, er sinkt.
    Er weiß nicht, wie es zugegangen ist, aber er sinkt.
    Die Wohnung in Paris ist groß, vielleicht sieben Zimmer, es sind die Jahre 1986 bis 1989, sie liegt im vierten Stock an den Champs-Élysées, es ist Alkohol in allen Schränken, die Flaschen werden für die dänische Botschaft hier aufbewahrt, und er hat eine rote Katze.
    Er ist dem Tod nahe. Von dem fantastischen Balkon auf die Champs-Élysées kann er den Triumphbogen und den Eiffelturm sehen. Wegen der intensiven Verschmutzung durch den Verkehr dort unten wird der Balkon sehr schnell schmutzig, doch man kann für kurze Momente hinaustreten, zwei bis drei Minuten, und, wenn ein Besucher kommt, von der Aussicht begeistert sein . Es kommen viele Besucher. Er hasst die Wohnung.
    Seine Katze, die August heißt, hasst sie auch. Die Katze ist sehr groß und glänzend rot. Sie ist aus Kopenhagen mitgebracht. Es ist eine Draußenkatze, die jetzt eine Drinnenkatze geworden ist, also eingesperrt. Der Verkehrslärm dröhnt intensiv, wenn man ein Fenster einen Spaltbreit öffnet. Weil es unmöglich ist, Türen oder Fenster zur Straße hin zu öffnen, betrachtet auch er sich als eingeschlossen. Er ist den größeren Teil des Tages allein mit seiner Katze. Niemand ist daran schuld. Seine Frau Lone arbeitet als Kulturattachée an der Botschaft, er befindet sich in einer repräsentativen Wohnung, mit repräsentativem Alkohol. Er weiß nicht, vielleicht ist er damit dem dänischen Staat etwas schuldig. Oder aber dieser schuldet ihm drei Jahre. Er geht oft schnell durch die Zimmer, vor und zurück auf eine gekränkte Art und Weise, die komisch ist. Wenn es eine Theaterbühne wäre, würde die Bühnenanweisung ›Angst‹ oder ›Unruhe‹ lauten. Jetzt hat er jedoch nur die Absicht, eine Situation von schwerer Not und Verlassenheit zu markieren.
    Es gibt absolut keine Entschuldigungen für seine Apathie, er sieht schnell ein, dass der Untergang nahe ist, und fügt sich willenlos. Er liebt es in diesen Jahren – also gegen Ende der achtziger Jahre – den Ausdruck ›der unaufhaltsame Untergang‹ zu denken.
    Er denkt auf Schwedisch.
    Sein Französisch ist schlecht, um nicht zu sagen miserabel. Er spricht Französisch wie ein altes Sofa. Jeden Tag kauft er die Sportzeitung l’Équipe und liest die Fußballberichte. Hat er einen Spielbericht

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