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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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werden, bis sie am tiefsten Punkt anlangen, Einsicht in ihre Situation gewinnen, was ihnen dem Modell zufolge am letzten Behandlungstag gelingt, um nach der Entlassung langsam ihr Ich-Gefühl und ihr Selbstbewusstsein wieder aufzubauen, indem sie mindestens zweimal pro Woche für den Rest ihres Lebens AA-Treffen besuchen, zusammen mit anderen chemisch Abhängigen.
    Das ist das Modell. Theoretisch gesehen meint er, seinen tiefsten Punkt schon erreicht zu haben, den Nullpunkt. Er befindet sich in Woche eins, ist jetzt ausgenüchtert, und mit jeder Zelle seines Körpers sträubt er sich dagegen, gebrochen zu werden, weil das wenige, was noch übrig ist, ihm unersetzbar erscheint. Das wild schreiende kleine Kind will nicht kapitulieren; das Leben ist dann nicht lebenswert.
    Im übrigen fühlt er sich schon zerstört. Und da in die Behandlung das Axiom eingeht, dass intellektuelle Aktivität sicherlich eine Lebenslüge ist, ein Krankheitssymptom, entstehen Konflikte.
    Kritik der Methode ist ein klassisches Alkoholikerproblem. In Frage zu stellen ist im Grunde ein Beweis für Alkoholismus. Die schlimmste Leugnung. Sie verhindert die Unterwerfung, bei der nur noch das wehrlose Gefühl übrig bleibt, die Einsicht, dass der Weg des Führers vorbehaltlos richtig ist. Und dass nur eine geistige Umkehr einen Alkoholiker retten kann .
    Vielleicht war es so. Vielleicht hatten sie recht.
    Klarsicht hatte ja nicht geholfen. War sogar zur Legitimation dafür geworden, weiterzumachen. Aber instinktiv leistet er Widerstand. Sein Ich sagt: Ich will nicht zerstört werden.
    Schon nach wenigen Tagen beginnt er die Pflege, oder die Internierung, oder die Klapskiste, oder kurz gesagt das Minnesota-Modell als einen Kriegsschauplatz zu betrachten, wo die Pfleger die natürlichen Feinde und die internierten Kameraden mögliche Alliierte im Kampf gegen den Faschismus sind.
    So deutlich drückt er es in der ersten Woche nicht aus. Aber es brodelt.
    Er kann ja seinen Zusammenbruch nicht abstreiten. Aber seine gesamte vielleicht noch vorhandene intellektuelle Widerstandskraft begehrt auf. Wogegen sie aufbegehrt, ist unklar, aber er bäumt sich auf. Es gibt auch vieles, worüber man sich wundern kann.
    Er akzeptiert, dass die Behandlung das Brechen des Widerstands anstrebt, wehrt sich jedoch dagegen, dass das Wrack danach einer Macht, die stärker ist als seine eigene, überantwortet werden soll. Schon am zweiten Tag wird ihm Das Große Buch ausgehändigt, der Basistext für die Alkoholtherapie nach dem Minnesota-Modell, der in den dreißiger Jahren in den USA verfasst wurde, sowie Material über AA. Er liest. Jede andere Lektüre ist ja verboten, ebenso Fernsehen und Radio.
    Plötzlich fällt es ihm wie Schuppen von den Augen, es ist wie ein Schock. Er wusste ja, dass die Anonymen Alkoholiker aus der Oxfordbewegung und der Moralischen Aufrüstung hervorgegangen waren, eigentlich das einzige, was von dieser christlichen extremen rechten Ideologie überlebt hatte. Seine Mutter hatte ja Bischof Giertz’ Buch Und etliches fiel auf den Fels gehabt! Und viel von den ›vier Absoluten Forderungen‹, Ehrlichkeit, Reinheit, Selbstlosigkeit und Liebe gesprochen. Waren ihre religiösen Wurzeln nicht irgendwie unklar gewesen? Die Erweckungsbewegung oder die Oxfordbewegung?
    Musste das etwas bedeuten?
    Das Große Buch ist seitdem mehrfach gewaschen worden , sprachlich wie ideologisch, aber der ideologische, leicht braun gefärbte Ursprung scheint noch durch, wie eine Schattierung.
    Er akzeptiert kaum die unablässigen Beteuerungen im Buch, dass das Modell keineswegs eine religiöse Struktur sei. Ununterbrochen steigern sich in den Texten die Versicherungen, dass Religion bedeutungslos sei. ›Es geht nur darum, dass man bereit ist, an eine Macht zu glauben, die stärker ist als man selbst‹. Oder später: ›Wir beschlossen, unseren Willen und unser Leben in die Hände Gottes zu legen, so wie wir selbst ihn auffassten.‹
    Gott ist vielleicht nicht der Gott der Bibel? Hier liegt eine eigentümliche Mehrdeutigkeit vor. Der Gott, auf den man sich ständig beruft, ist ein Führer, der Unterwerfung verlangt.
    ›Zuallererst mussten wir aufhören, mit Gott zu spielen. Das ging nicht. Deshalb beschlossen wir, dass im Drama dieses Lebens fortan Gott unser Führer sein sollte. Er ist unser oberster Chef, wir nur Seine Untergebenen. Er ist der Vater, und wir sind Seine Kinder. Die meisten guten Ideen sind einfach, und dieser Beschluss wurde zum Grund des neuen

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