Ein anderes Leben
Triumphbogens, durch den wir hindurchschritten auf dem Weg zur Freiheit.‹
Er liest intensiv im Großen Buch, dem einzigen erlaubten Lesestoff, und findet immer wunderlichere Texte. ›Es gibt eine Lösung. Wir haben ein tiefes und durchgreifendes geistiges Erlebnis gehabt, welches unsere ganze Einstellungzum Leben, zu unseren Mitmenschen und zu Gott verändert hat.‹ Oder die immer deutlicheren Behandlungsanweisungen im AA-Material: ›Du musst diese Menschen zuerst verzweifelt machen. Nur dann kannst du anfangen, deine zweite Medizin anzuwenden, die ethischen Prinzipien, die du aus den Oxfordgruppen mitgebracht hast.‹
Er ist beunruhigt.
Die Lügen des Alkoholikers müssen zunichtegemacht werden, das versteht er, aber etwas anderes stimmt nicht. Es ist, als werde man in einen Malstrom hineingesogen: Die Bekenntnisse, das Niedermachen des Patienten, die Unterwerfung, das Psychodrama der Selbsterfahrungsgruppen, die Konfrontationen, bei denen der Alkoholkranke, eingeschlossen in einem Kreis von Mitpatienten und Personal, unter erzwungenem Schweigen sich die Erinnerungen der Angehörigen an sein Verhalten anhören soll; und dass alles außer Unterwerfung eine Sabotage der Behandlung ist.
Er nähert sich in raschem Tempo einem Zusammenbruch. Einerseits will er sich fügen, weil er weiß, dass sein Intellekt und sein Hochmut ihm bisher auf jeden Fall nicht geholfen haben. Anderseits will er sich nicht unterwerfen.
Jede Pore in ihm schreit ja, ja und nein, nein. Oxfordbewegung, Frank Buchman, die vier Absolutheiten und das geheime Verständnis seiner Mutter für die Hochkirchlichkeit von Bischof Giertz; war es so, dass die unerbittlichen Fangarme des Erlösers gleich der riesigen Krake, die einst die Nautilus eingefangen und Kapitän Nemos U-Boot fast zermalmt hatte, dass diese nun zuletzt auch ihn eingefangen hatten?
Und dass es jetzt keine Rettung vor der Erlösung mehr gab.
Am zweiten Tag wird er in ein Doppelzimmer verlegt, am dritten in einen Schlafsaal mit sechs Betten. Die Leitung hat beschlossen, dass er sozialisiert werden und mit der Gruppe verschmelzen muss.
Das macht ihn froh. Die Gruppe ist das einzige, was ihn daran hindern kann, geisteskrank zu werden.
An dem Tag im Doppelzimmer wohnt er mit Jurma zusammen, er registriert, dass dieser denselben Namen hat wie sein Freund aus der Kindheit. Der Zimmergenosse ist zirka einsfünfundachtzig groß, wiegt hundertundzehn Kilo, mindestens, und spricht schlecht Schwedisch; wird am Montag schwer betrunken aufgenommen und ist traurig. 2,25 Promille. Er hat fünfzehn Jahre als Totengräber gearbeitet, und jetzt will seine Freundin Schluss machen. Er hat fürchterliche Entzugsbeschwerden und bittet den Zimmergenossen, seine Notlage und seine Sehnsucht nach Alkohol zu erklären; dieser geht hinaus zur Leitung und bittet um Librium für Jurma, er erinnert sich ja lebhaft an seine eigene Hölle vor zweieinhalb Tagen. Die Antwort ist nein. Jurma soll ausschwitzen, bekommt Das Große Buch und einen Stapel AA-Papiere in die Hand, um sich einzulesen.
Die Papiere und das Buch fallen zu Boden. Er flucht leise, um nicht zu stören.
Er kann ja, stammelt er, verdammt noch mal nicht lesen, schon gar nicht Schwedisch, und erst recht nicht Das Große Buch. Jurma behauptet, dass es ihn nach einem Drink verlangt, oder eher nach einem ehrlichen Schnaps. Er sagt, er pflege Selbstgebrannten zu trinken. Es gab eine unerhörte Menge Selbstgebrannten auf Söder. Seine Freundin wollte nicht mehr.
Er begreift nicht, was er liest, und sagt, er habe Angst, nicht mehr mitzukommen. Den Vertrag, den er bei seiner Aufnahme unterschrieben hat, konnte er nicht lesen und macht sich jetzt Sorgen, dass sie ihn rankriegen. Er schwitzt und wälzt sich im Bett. Enquist im Bett daneben wird immer wütender auf die Leitung, die Jurma keinen Schnaps oder wenigstens Librium gibt. Er ist fast sicher, dass Jurma irrtümlich in der M 87 gelandet ist, er sieht nicht aus wie ein normaler privilegierter Pflegepatient, das auserwählte Promille. Er fühlt immer mehr, dass Jurma verteidigt werden muss. Er weiß noch nicht, was das Beste für ihn ist, und legt sich mit der Leitung an, sie müsse Jurma helfen. Librium oder Litium oder Rohypnol, sonst wird Jurma wahnsinnig, und lesen kann er nicht, was soll er also mit den AA-Papieren.
Man sagt ihm, dass er selbst Ruhe braucht, sich entspannen soll , und ein Psychologe kommt und misst seinen Blutdruck, aber nicht den Jurmas. Es ist ein junger Psychologe, der
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