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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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schleicht er sich deshalb zum Telefonautomaten und ruft seinen Sohn an, der sich meldet. Aber Mats scheint sich mit allzu ruhiger Stimme auf die Seite der Anstaltsleitung zu stellen oder auf jeden Fall Verständnis für sie zu zeigen. Und Jenny, sagt der Sohn, denkt genauso.
    Er soll sich beruhigen, so interpretiert er, mehr den Tonfall als die Worte. Er lauscht der Stimme seines Sohns: Dieser spricht wie ein Erwachsener, und der Eingewiesene wird zum Kind, das man liebt, aber das ja notwendigerweise jetzt seiner Selbständigkeit beraubt wird.
    Er versteht, dass man für sein Leben plant. Es wird schon gut werden, wenn das Leben nur von ihnen zurechtgelegt wird. Seine Zukunft als Kind, und die Regeln werden jetzt offenbar festgelegt. Er ahnt das Schlimmste. Die Kinder haben mit Lone gesprochen. Es ist ein wenig unklar, aber sie wollen offenbar wechselweise nach Kopenhagen hinunterkommen und auf ihn aufpassen, wenn er entlassen wird. Fahrscheine schon bestellt. Etwas in dem Stil.
    Wie schnell es gegangen ist.
    Vor nur einer Woche war er noch mündig, sogar angesehen , hieß es nicht so? Alles, was er getan und geschrieben hat, war jetzt gewissermaßen ausradiert. Wohin ist der weiße Elefant verschwunden? Der Respekt? Jetzt ist er entmündigt, trägt praktisch Windeln.
    Oder war er das schon viel früher?
    Aber es wird sich bestimmt wieder alles für ihn ordnen, wenn er jetzt nur ruhig ist und in der Selbsterfahrungsgruppe arbeitet und spiegelt und versucht, hinunterzugelangen an seinen tiefsten Punkt.
    Er muss ein anderer werden.
    Der Vorige ist kaputtgegangen, war eine Fehlkonstruktion. Hat zwar gute Bücher und Stücke geschrieben, doch diese Lebenslügerei ist ja nur eine Flucht. Er taugt nicht, und muss das einsehen. Und aufhören, in dieser Anstalt zu denken und zu handeln, als wäre er noch der Vorige , der jetzt Durchgefallene. Man hat anscheinend darüber geklagt, dass er an den Abenden nicht still im Großen Buch liest, was nicht zutrifft, er tut es wirklich, doch nicht mit offenem Herzen. Jagt vor allem Reste von Faschismus darin, will es sich nicht zu eigen machen .
    Ein Krankheitssymptom.
    Er soll sich jetzt ganz darauf konzentrieren, sich zu brechen. Und keinen Terror gegen die Anstaltsleitung inszenieren.
    Es wurde kein gutes Telefongespräch mit seinem Sohn, das sehr rasch von seiner unzureichenden Rolle als Vater vor vielen Jahren handelte, das verkraftet er jetzt nicht, es kann wahr sein, ist es vielleicht auch, aber nicht gerade jetzt; am Schluss knallt er wütend den Hörer auf, nachdem er erklärt hat, dass er absolut kein weiteres Telefongespräch oder überhaupt Kontakt mit seinen Kindern mehr wünscht.
    Jetzt nehmen sie mir auch die Kinder weg, denkt er und setzt sich in die Küche.
    Eine der Pflegerinnen, Schwester Brita, holt eine Tasse Kaffee. Sie ist in den Sechzigern und hat, im Unterschied zu Schwester Ratched, selbst die Scheiße durchgemacht, aber er bekommt einen Ausbruch und sagt, dass sie ihn jetzt entmündigt haben und ihm auch die Kinder wegnehmen und dass dies Faschismus ist, sie sind allesamt Faschisten, sie einschließlich. Schwester Brita lässt sich schwer auf einen Stuhl fallen und starrt in ihre Kaffeetasse und schweigt nur. Er besinnt sich und bittet sie um Entschuldigung. Sie sagt ganz ruhig, aber er sieht, dass ihre Unterlippe zittert, dass es nichts macht, es ist ja mein Job, Faschist genannt zu werden, das bin ich gewöhnt .
    Er geht in sein Zimmer, wo die anderen schon schlafen, legt sich auf den Rücken und starrt an die Decke und denkt an nichts, aber nach einer Weile geht es immer nur rund und rund: Was zum Henker tue ich eigentlich .

Am Sonntag kommen Anders und Annika zu Besuch, und sie dürfen in der Cafeteria sitzen.
    Er redet wild, und sie hören zu, sagen aber nicht soviel. Sie sehen wohl, dass ihm sein Leben aus den Händen geglitten ist. Was können sie tun. Annika, die ein bisschen freikirchlich ist, oder war, wie er selbst einmal, schickt wohl am Abend, wenn Anders und Jakob eingeschlafen sind, ein kleines Stoßgebet mit der Bitte um seine Rettung zum Erlöser auf. Er sagt nichts über die Einsicht von äußerster Scham , die sich seiner vom allerersten Tag an bemächtigt hat. Aber sie verstehen vielleicht.
    Sie sind seine besten Freunde – und hoffen wohl trotzdem.
    Es ist sehr kalt dort draußen.
    Er hat fast vergessen, dass Winter ist, als er zusammen mit den Kameraden im Minibus zu seinem ersten AA-Treffen gebracht wird. Es ist das erste Mal, dass er

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