Ein anderes Leben
in der fünften Woche nichts, woran er rein gefühlsmäßig arbeiten könne.
Aber er hatte nicht abgeblockt. Er glaubte vielleicht, dass er böse ausgesehen hatte, aber er hatte nur Angst gehabt. Er hatte ja so verdammte Angst gehabt.
Er hatte auch einen unangenehmen Brief von seiner früheren Lebensgefährtin bekommen, die schrieb, dass sie dies ja die ganze Zeit geahnt habe und keinesfalls beabsichtige, sich persönlich einzufinden und ihn zu konfrontieren, denn sie betrachte ihn als einen großen Haufen Mist, und das sei jetzt bekräftigt. Er hatte Angst davor, was sie über das Intimleben geschrieben hatte. Wenn er das in der Selbsterfahrungsgruppe in den Hals gestopft bekäme, würde er verrückt.
Er glaubte, als Versager angesehen zu werden. Aber er tat ja alles, was er tun konnte. Es gab doch welche, denen es schlechter ging.
Zwei der weiblichen Patienten waren im Ting gemangelt worden, dem Raum mit den Gebeten und den Geboten von AA an den Wänden. Die eine, die K hieß, war ziemlich vollgestopft gewesen mit Lügen und hatte gesagt, sie sei keine Alkoholikerin, sondern gemeint, dass nur ihr Mann einen Monat allein sein wollte, um freie Hand zu haben mit der Sau, über die sie Bescheid wisse, obwohl er es abgestritten hatte. Liljenberg war steinhart gewesen und hatte gesagt, dass sie lüge, und dann hatte er aus dem Angehörigenformular zitiert, in dem der Ehemann schrieb, wenn sie nicht völlig trocken würde, dann ließe er sich auf der Stelle scheiden. Das war ja eine Überraschung für sie, und sie fing an zu brüllen, aber am Tag danach waren mehrere der Mitinsassen kritisch ihr und ihren Lügen gegenüber, das war nicht so spaßig. Danach hatte sie bedrückt ausgesehen, aber Ragnar meinte auf jeden Fall, das mit der Scheidung habe sie nicht geahnt.
Eine andere Patientin, sie hatte fünf Kinder und machte sich Sorgen, hatte außer dem Telefonverbot Schminkverbot bekommen. Das kam, weil sie in einer der Selbsterfahrungsgruppen gesagt hatte, ihr Selbstvertrauen säße in den Kleidern. Da hatte die Leitung gefunden, dass dies interessant sei , und ihr die Schminke weggenommen, um sie so dazu zu bringen, leichter zusammenzubrechen und zu weinen.
Sie hatten im Kaffeeraum gesessen und verglichen. Es war einfacher, wenn man nicht allein war.
Ragnar meinte, vielleicht sei es vernünftig, den Alkoholiker zu Mus zu machen, damit er seinen tiefsten Punkt erreichte. Wenn man so auseinandergenommen wurde, konnte man sich nichts mehr vorlügen. Aber nach einem Monat sollte man wieder raus. Und wenn man auseinandergenommen war und dort draußen in der Wirklichkeit ein kalter Wind wehte, dann war man wahr und log nicht , aber man war auseinandergenommen , und was für ein Mensch war man dann eigentlich.
War man eigentlich ein Mensch.
Sie waren sich alle einig, dass in der Gruppe am Ende ein verdammt wunderbarer Zusammenhalt bestand.
Aber die Konfrontationen in der dritten Woche waren die Hölle, wenn die lieben Nächsten das Tuch wegziehen und die letzten Lügen, die eventuell noch vorhanden waren, enthüllen sollten. Es überlebte wohl eine private Sphäre bei den Insassen – man hatte in der Gruppe begonnen, Insassen statt Patienten zu sagen, denn das klang roher und richtig –, die bei den internen Gruppentreffen nie enthüllt wurde.
Er erinnert sich besonders an den Setzer aus Södertälje, der Bengt hieß.
Er war ziemlich still und schüchtern und an die sechzig Jahre alt. Seine Frau war herbeizitiert und vom Personal in die Mangel genommen und ermuntert worden, und sie hatte versprechen müssen, nichts zu verschweigen , um ihres Mannes willen, und so wurden sie auf zwei Stühlen einander gegenüber gesetzt und die Zuschauer in einem großen Kreis darum herum. Es war die erste Angehörigenmanglung, deren Zeuge er wurde, und ihm wurde beinah unmächtig und er dachte, wie wird das gehen, wenn ich selbst . Die Frau war furchtbar nervös gewesen, aber auch ängstlich, dass alle enttäuscht wären, wenn sie nicht ehrlich war, und der Setzer aus Södertälje hatte leichenblass dagesessen, und dann hatte Schwester Ratched mit einer Frage den Anfang gemacht, und die Frau hatte etwas zögernd und mit zitternder Stimme begonnen und manchmal ein bisschen geflennt. Doch dann hatte sie Mut gefasst, und am Schluss gesagt, was das Erotische anginge, sei es nie gut gewesen, denn in den dreißig Jahren, die sie verheiratet waren, habe sie nie einen Orgasmus gehabt, obwohl sie so getan habe, aber jetzt wolle sie es
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