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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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war möglich, und dann hatten sie zu Abend gegessen und an ihn gedacht.
    Na super!
    Hätte er zumindest seine rote Katze August hier gehabt, in diesem Zustand von Not und äußerster Bedrängnis.

Er entdeckte, dass es eigentlich allen Insassen so ging wie ihm.
    Am schlimmsten war es mit den Angehörigen. Wenn sie zu den großen Konfrontationen kamen, war es fast unerträglich. Sie sollten ja in der dritten Woche hinzugezogen werden, wurden aber von der Leitung zuerst vorbereitet und wütend gemacht auf den Alkoholiker, vor der öffentlichen Mangelung im Kreis aller, inklusive anderer Angehöriger; dann sollte der Alkoholiker in die Mitte auf einen Stuhl gesetzt werden, und die Lieben sollten ihm gegenüber Platz nehmen, einer nach dem anderen und die schlimmsten Erinnerungen daran erzählen, wie er gewesen war. Aber vorher wurden die Angehörigen vom Personal in die Mangel genommen und dazu gebracht einzusehen, dass man wahr und schonungslos sein musste, ja das war eine der vier Absoluten Forderungen aus der Oxfordbewegung, absolute Ehrlichkeit, sonst half man ihm oder ihr nicht, den tiefsten Punkt zu erreichen.
    Ragnar war zwei Wochen vor ihm in die M 87 gekommen, sie saßen im Essraum, und er war bedrückt. In der letzten Woche hatte er eine Konfrontation und zwei Mangelungen in der Selbsterfahrungsgruppe gehabt, und er hatte das Gefühl, dass die Leitung unzufrieden mit ihm war. Er hatte auch Schwierigkeiten mit dem Weinen. Jetzt ging die Behandlung ihrem Ende entgegen, und er war nicht zusammengebrochen und hatte geweint. Er glaubte, dass die Leitung dies als Niederlage betrachtete. Dann machte er sich Sorgen wegen seines Bruders, den er drei Jahre lang nicht getroffen hatte; einer der Pfleger war gekommen und hatte um die Adresse des Bruders gebeten, aber er fand das nicht gut und hatte gefragt, warum. Wir wollen ihm nur ein bisschen Material schicken, hatte der Pfleger gesagt. Aber sein Bruder wusste ja nicht einmal, dass er in der Klinik war! Verdammt unangenehm, aber er hatte trotzdem die Adresse genannt. Zwei Tage später hatte der Bruder angerufen und war empört, er hatte den gleichen Fragebogen bekommen wie Ragnars frühere Lebensgefährtin, die sich wirklich keine Zügel angelegt hatte, als sie ihn ausfüllte. Am schlimmsten waren die intimen Fragen, die das Sexualleben betrafen. Den Teil hatte der Bruder ja nicht ausgefüllt, behauptete er wenigstens am Telefon.
    Es mochte ja noch angehen, dass sie über allerintimste Dinge sprachen. Aber dann würde das ja in der Konfrontation vor allen anderen benutzt.
    Am Samstag war Ragnar auf jeden Fall zu einer Konfrontation gezwungen gewesen. Sie hatten seine Mutter hergeschafft. Sie war sechsundsiebzig Jahre alt. Er hatte immer ein ganz prima Verhältnis zu seiner Mutter gehabt, sie konnten über alles reden, auch dass er trank. Und sie hatte hinterher erzählt, dass die Pfleger sie unheimlich lange belabert hatten, sie müsse wahr und aufrichtig sein. Sonst würde Ragnar nicht gesund. Dann saß er da in der Mitte, vollkommen stumm und schwitzte und durfte die Lippen nicht bewegen. Aber seine Mutter hatte nichts besonders Schreckliches gesagt, und er hatte fest auf die Zähne gebissen, so dass er nicht geweint hatte, fast.
    Sie war ja auch so alt. War es nicht gewöhnt, vor Publikum zu sprechen.
    Am Tag danach war Selbsterfahrungsgruppe gewesen, und da hatte das Personal sich so richtig auf ihn gestürzt. Sie waren unzufrieden, nicht nur mit seiner Mutter, die ganz fest versprochen hatte, schonungslos zu sein, es aber nicht gehalten hatte, sondern vor allem mit Ragnar selbst. Er hatte durch seine ärgerliche Miene seine Mutter zum Liebsein erschreckt . Warst du böse auf deine Mutter, hatten sie gelabert, aber er war absolut nicht böse, das hatte er ihr auch eines Tages gesagt, als das Telefonverbot aufhörte. Sie tat ihm nur so verdammt leid. Aber da hatte das Personal eine Analyse vorgenommen, die noch unzufriedener war , und ihm eine Spiegelung verordnet, und all die anderen waren ebenfalls der Meinung gewesen, dass er böse ausgesehen hatte, fast so, als hätte er sie zum Schweigen erschrecken wollen. Das schmerzte ihn, und er fragte sich jetzt, ob er wirklich böse ausgesehen und seine Mutter fast zu Tode erschreckt hatte.
    Am Ende hatte jedenfalls das Personal aufgegeben. Sein Betreuer war besorgt gewesen und hatte ihm die Aufgabe gestellt, einen Brief darüber zu schreiben, warum er gefühlsmäßig abgeblockt hatte. Wenn er das nicht täte, hätte er ja

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