Ein anderes Leben
dem Gesetzbuch.
Aber was verteidigt er? Und warum so wild?
Vielleicht weil das Therapiemodell, dem er ausgesetzt war, bedeutete, dass ein neuer Mensch geschaffen werden musste . Und er muss, im Innersten, ziemlich angetan gewesen sein von dem alten, mit seiner merkwürdigen Legierung aus Sportzeitung, Evangelischer Vaterländischer Stiftung und Volksbewegungssozitum. Jetzt taugte das nicht mehr. Das stand bereits in den zwölf Schritten , die man jeden Tag fünfmal herunterleierte, gar nicht zu reden von dem Gesülze in den Vertiefungsgruppen. Schritt 4 lautete: ›Wir haben eine durchgreifende und unerschrockene moralische Inventur unseres eigenen Ichs vorgenommen‹, und eigenes Denken wurde ja als ein Hindernis für die Unterwerfung des Menschen unter eine höhere Kraft bezeichnet und war also ein Teil des Krankheitsbildes.
Es ging um das mit der Unterwerfung.
War es nicht ein Anflug von Hochmut, der ihn dazu veranlasste, sich zu verteidigen? Die Jahre mit den Flaschen hatten sein Urteilsvermögen vielleicht ein wenig zerrüttet. Verzweifelte Versicherungen, dass er taugte, und dann die eiskalten Morgenstunden ohne Hoffnung und ohne Illusionen. Ein Freund hatte traurig zu ihm gesagt, er sei nur siebzig Prozent seiner selbst, auch in Perioden, in denen er nüchtern war; er hatte wütend geantwortet, dass siebzig Prozent von ihm mehr wären als hundert Prozent von allen anderen.
So dachte er. Nicht viel übrig von der eingeübten Demut.
Oder die kranken Reste dieser Demut hatten angefangen, sich wie ein Krebs in seinem Lymphsystem auszubreiten. Die Mannschaftskameraden in der M 87 blickten verwundert und fragend auf den Krieg, in den er sich verstrickte. Er sah, dass sie auf seiner Seite standen, aber dass sie eigentlich nicht wussten warum, und er konnte es ihnen nicht erklären, und sich selbst auch kaum, nein, sich selbst unter keinen Umständen.
Aber drinnen im Dunkeln wollte er wohl sein Leben verteidigen, wenn es denn noch ein Leben war, das zu verteidigen sich lohnte.
Es war ja eine neue Welt, die sich öffnete. Vielleicht so wie die Thermen und die Katakomben in Paris. Oder war es Neapel? Durch Neapel war er gewandert, in einem früheren Leben. Oder war es Paris.
Übrigens: Wieviel er geschrieben hatte, ohne die Welt der Katakomben zu kennen.
Am Freitag der zweiten Woche kam es zum Knall im Konflikt zwischen der Leitung und ihm. Es hatte in der Selbsterfahrungsgruppe angefangen.
Sehr kurze Aufzeichnung im Tagebuch:
Man behauptet, dass ich lüge, versuche mich zu kontrollieren, gebe nicht nach. Stand wütend auf, ging. Fünf Uhr am Nachm., beschließe wegzugehen. Kann nur Trauer empfinden. Schlafe nicht in der Nacht, saß ab 4 Uhr morgens mit Eigil zusammen.
Eigil war der norwegische Skispringer, der angefangen hatte zu trinken; sein Vater war ehrgeizig und sah Olympiamedaillen vor sich, und er hasste seinen Vater und fing an, von zu Hause wegzulaufen, und jedes Mal bekam er Prügel. Es war unklar, wie alt er war, als er betrunken von einem Bahnsteig fiel und vom Zug überfahren wurde und ein Bein verlor. Es würde keine Medaillen geben.
Er schämte sich für das, was passiert war. Der Vater schämte sich auch. Ein Krüppel war nichts, worauf man stolz sein konnte.
Eigil hatte seinen Vater weiß der Kuckuck wie lange nicht gesehen, erklärte er. Nachdem er eine Prothese bekommen hatte, war er lange Perioden hindurch nüchtern und hatte einen Job bei einem privaten Pflegedienst; der Inhaber war ein Elektriker, der diversifizieren wollte und ein Unternehmen mit dem sonderbaren Namen ›Elektrik & Pflege‹ gestartet hatte. Das Landsting hatte die Alkoholikerbetreuung dieser Firma ›Elektrik & Pflege‹ übertragen. Der Unternehmer, der seiner Zeit voraus war, strich monatlich vierundvierzigtausend Kronen aus Steuergeldern ein, aber Eigil war derjenige, der für einen geringen Lohn die Pflege übernahm, und der Gewinn ging an die Firma; er glaubte, dass es ansehnliche Beträge waren. Seine Aufgabe, der eigentliche Pflegedienst, bestand darin, dass er auf dem Fahrrad zwischen den Alkoholikern auf Söder herumfuhr, die Prothese war kein Hindernis, und jeden Morgen eine Antabus-Tablette in sie hineinstopfte, sonst würden sie keine Sozialhilfe bekommen.
Viele dieser Alkoholiker waren seine Kumpel. Sie flehten und bettelten, dass ihnen die Tablette erspart bliebe, aber Eigil kannte ja alle Tricks und ließ sich nichts vormachen. Es gab auch welche, die nicht nur bettelten und flehten, sondern auch
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