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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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trank weiter.
    Es gab keine Gerechtigkeit und keinen Gott, und die Strafe war ewigkeitslang wie der Felsen im Meer. Und er war gefesselt, und wie er auch kämpfte, er kam nicht los.
    Und er sah jetzt ganz klar vor sich, dass es für ihn nie eine Achte Sinfonie geben würde.

Was für ein merkwürdiges Jahr, dieses 1989.
    Es war, als liefe die Welt um ihn herum Amok, und er selbst war in einer Glaskugel eingeschlossen. Er, der von der Politik erfüllt gewesen war, diesem Gift, weswegen Frau Meckel und er auf den Knien gebetet hatten, er möge davon befreit werden. Jetzt lag die Alkoholschläfrigkeit wie eine Käseglocke über ihm, und darunter saß er betrunken oder schlafend und kümmerte sich nicht. War es das, wofür sie gebetet hatten?
    Im November fiel die Berliner Mauer, und er befand sich in Prag. Er war oft in Prag gewesen, bei Proben seiner Stücke, doch jetzt war es ein Theaterkongress, und niemand hatte vorhersehen können, dass das zwanzigste Jahrhundert in dieser Woche zu Ende gehen und nichts mehr so sein würde wie früher. Er hatte versucht, seinen Alkoholkonsum unter Kontrolle zu halten, und es war ihm fast geglückt, aber als die Revolution plötzlich Wirklichkeit wurde, sagte man den Kongress ab. Oder wandelte ihn in ein Revolutionskomitee um, oder etwas anderes. Er erinnert sich, dass er in einem Theatersaal eine Rede hielt, zur Unterstützung von etwas. Was, das weiß er nicht mehr. Er ist jedoch fast sicher, dass es mit dem Mauerfall zu tun hatte.
    Seine Erinnerung setzt da aus, nach der Rede, weitgehend.
    In der Nacht darauf war der Wenzelsplatz von hunderttausend Menschen bevölkert, sie bewegten sich wie zusammengepresste Schatten, vielleicht auf dem Weg in eine Richtung . Etwas war geschehen, und, vor allem, es sollte etwas geschehen. Genau hier, auf diesem Platz, den er so gut kannte. Gleich daneben lag ein Theater; dort hatte er einmal den Proben eines seiner Stücke beigewohnt. Waren es nicht die Regenwürmer ? Oder die Tribaden ? Wäre es in seinem früheren Leben gewesen, hätte er gesagt Jetzt befindest du dich mittendrin, jetzt ist es deine Pflicht, zu sehen . Einmal hatte er geglaubt, dass es seine Aufgabe sei, sich in den Tiefenströmungen der Zeit zu bewegen und zu sehen, und dann das zu schreiben, was er sah. Als ein politisches Wesen, und mit Zuversicht.
    Aber er war nicht mehr der gleiche. Er war ein anderer.
    In diesem Augenblick wurde ganz Osteuropa befreit, einige tschechische Freunde baten ihn, gegen zehn Uhr am Abend mitzukommen zu einem Treffen, das vielleicht ein geheimes Treffen mit Dissidenten war. Aber im gleichen Augenblick flüstert eine Stimme in seinem Inneren, mit ihrem vertrauten Tinnituston, dem er nicht länger zu widersprechen vermochte oder wagte: Mein Freund, denk daran, dass du nicht frei bist, die Ketten hängen über deinem Körper. Die Hunderttausend, die jetzt singen und um dich her rufen, gehen dich nichts mehr an. Sie werden jetzt befreit, aber du kannst nicht freikommen. Ihr Leben geht einen, der eingefangen ist, wie du es bist, nichts mehr an. Glaube nicht, du seist einer von ihnen. Die Nacht gehört ihnen, und vor allem der Morgen, aber weder die Nacht noch der morgige Tag sind dein .
    Hilflos steht er mitten in der Menge auf dem Wenzelsplatz. Er glaubt, sich im Mittelpunkt der Geschichte zu befinden. Aber weil er in Ketten liegt, hat er keinen Anteil am Leben dieser bald Befreiten.
    Die unerbittlich flüsternde Stimme hat eine Lösung. Du hast in deinem Hotelzimmer zwei Flaschen Wein. Geh sofort dorthin. Schließ dich in sie ein. Dann kannst du schlafen .
    Und also schließt er sich ein.
    Er empfand keine Bitterkeit gegen die Gefangenenwärter, die zwei Flaschen billigen tschechischen Rotwein, nur Dankbarkeit und fast Liebe. Sie hatten ihn gerettet vor der Welt, vor diesem seinem Leben, das zuvor so privilegiert gewesen war, dem Leben, das so wenige andere leben durften. Wie vielen war ein Leben beschert, wie er es gehabt hatte? Aber jetzt war es vorbei. Er war eingefangen und angekettet, und musste sich fügen.
    Eigentlich Dankbarkeit fühlen.
    Er trank sich langsam ins Gefängnis hinein, das er jetzt untergeben liebte, wie die Einsamkeit, wie den Schlaf im Hotelzimmer, der bald seine endgültige Belohnung werden sollte. Schwach drang das Brausen vom Wendepunkt der Geschichte zu ihm durch, es war im November 1989 in Prag, die beiden Flaschen würden genau reichen, und er liebte die Entschlossenheit und die unerbittliche Fürsorge der

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