Ein anderes Leben
gleichsam in der ganzen Küstenlandschaft. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten gefangene Karoliner nach dem Krieg Karls XII. in einem Gefangenenlager in Sibirien gesessen und dort deutsche Herrnhuter getroffen. So waren sie bei ihrer Rückkehr fest im Denken der Brüdergemeinde verankert gewesen.
Sie waren um den Bottnischen Meerbusen gewandert gekommen.
Ausnahmsweise schienen die großen europäischen Einflüsse einmal von Norden zu kommen, in einem großen Bogen, praktisch vom Nordpol! Und jetzt saß Zinzendorf wie eingebrannt in das Denken der frommen Bauern. Frömmigkeit und Blutsmystik, mit einem eigentümlich lockenden sexuellen Unterton.
Die Widersprüche waren sehr sonderbar. Düstere Geilheit, aber das letztere hätte man nie zugegeben.
Man sang die Kirchenlieder mit klagender, fast verzweifelter Langsamkeit, das Erdenleben war eine Qual, die Sünde wie ein Steinsack. Das Tempo war unerträglich schleppend, wie um an Jesu Leiden am Kreuz zu erinnern, aber gleichzeitig waren Jesu Wunden der freudige Schlusspunkt. Die Wunden waren ganz und gar nichts Schmerzhaftes, nein, sie öffneten sich fast vaginal, Spalten gleich, die es zu penetrieren galt, oder in jedem Fall, um darin zu ruhen, wie umklammert von feuchten Häuten. Dort, vor allem, befand sich die Quelle des lusterfüllten Lebenstrunks der Herrnhuter: also Jesu Blut.
Er fand dies natürlich und richtig und ein bisschen spannend, zog aber die Linie nicht weiter bis zu Königin Sibyllas Brüsten; vor diesen lockenden und liederlichen Hügeln ging das Sündenbewusstsein nieder wie ein Schlagbaum. Gemeinsam mit den anderen im Bethaus und in der Juniorvereinigung murmelte er diese Gebete, die praktisch trieften von Jesu warmem Blut, er ruhte in Jesu Wunde wie in der begehrenswerten Spalte, beendete die Gebete mit dem obligatorischen Um des Blutes willen, Amen , sang klagend die freudigen Lieder Wir sind Jesu frohe Geschwister, die in der Wunde tanzen, sein Blut ist warm, seine Liebe voll vom lieblichen Geschmack des Bluts . Oder das richtig spannende Lied 58 aus Zions neuen Liedern: Bluttriefender Immanuel / bespritz mit Blut mein’ arme Seel’ / Lass mich durch diesen Lebenssaft / erfahren eine göttlich’ Kraft. / Als Bräutigam umfang mich heiß, / lass mich mein sel’ges Paradeis / in dei’m blutroten Herzen finden / Daran ich ewig mich will binden .
Dieses Schwimmen im Blut des Opferlamms, das keineswegs Tod oder Schmerz oder Leiden bedeutete, sondern das im Gegenteil wonnevoll heilend war, war eigentlich ziemlich herrlich. Näher konnte er dem größten Geheimnis des Lebens nicht kommen.
Der Gottesgabe, also der warmen pulsierenden Vagina der Frau. Dem, was der Sinn von allem war.
Der alte Zinzendorf, der Begründer der mährischen Bruderschaft, dieser milde religiöse Revolutionär, er war hier im Küstenland von Västerbotten wirklich der richtige Mann am falschen Platz. Er, der selbst praktisch Vielweiberei betrieb und schon um die Mitte der vierziger Jahre des 18. Jahrhunderts die rituelle Defloration beim Eingehen der Ehe vorschrieb, wobei das Paar, sitzend im blauen Zimmer , von den Ältesten überwacht wurde, und der auf nächtlichen böhmischen Wiesen im Mondschein makabre homoerotische Nackttänze veranstaltet hatte.
Das Kind verstand vielleicht nicht so viel, aber den Heranwachsenden traf es voll in den Sack, und der Erwachsene konnte mit einem interessierten Lächeln zurückblicken, als könne dies einen Teil dessen erklären, was dann kam.
Es gab so vieles, erkannte er später, das ihn bei Zinzendorf anzog. Dass die Bibel ein Text sein sollte, der sich ständig erneuerte! Und der Christo-Zentrismus! Und dass die Herrnhuter den strafenden Gott weitgehend abschafften und alles um einen milden, ein wenig sinnlichen Christus kreiste, der seine verzeihende Vagina allen Bedürftigen öffnete: also praktisch auch gekrümmten, sexuell ausgehungerten jungen Männern wie ihm selbst. Was die Frauen in Christus sahen, bekümmerte ihn nicht so sehr, doch der schöne junge Mann dort am Kreuz hatte vielleicht auch etwas für sie. Auf jeden Fall war es richtig prima, dass Gott im Herrnhutismus in eine dunkle Abseite geschoben wurde, als eine Art böser und nachtragender Strafender, den Christus im besten Fall erweichen konnte.
Und der Heilige Geist? Etwas Unbegreifliches, aber im Grunde Ungefährliches. Konnte ja so vieles sein, und schwer zu deuten, so dass das Problem auf die Zukunft verschoben wurde.
Die
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