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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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muss. Es ist ein Schritt zurück. Er weiß nicht, warum er die Fahrt mit dem Rad gemacht hat. Vielleicht wegen ihrer unendlichen Einsamkeit, um in ihrer Einsamkeit eine Art Gemeinschaft zu finden. Vielleicht will er ihr nicht die Liebe Christi geben, sondern nur seine eigene, sehr geringe, doch für sie nicht ganz unwichtige Barmherzigkeit. Wie lange noch?
    Vielleicht wissen sie beide, dass im Grunde alles verloren ist und dass dies das letzte Mal ist.
    Die Orgel dröhnt, als er, als letzter, zu dem großen Bekenntnisakt in Gottes Tempel eintritt. Er sucht mit dem Blick die Mutter. Als er sich neben sie setzt, glaubt er einen Ton von ihr zu hören, wie ein hilfloses Wimmern, ist aber nicht sicher.

Zweiter Teil
EIN HELL ERLEUCHTETER PLATZ

Kapitel 5
IN DEN VORHOF
    Er beendet seinen fünfzehnmonatigen Militärdienst beim I 20 in Umeå einen Monat vor der Abschaffung der Alkoholrationierung. John, der Bruder seiner Mutter, kauft einen Liter von seiner Ration und schickt diesen mit dem Bus die hundertfünfzig Kilometer von Bureå nach Umeå. So kann er beim Abschiedsfest also zum Glück beitragen und funktioniert solidarisch mit den anderen.
    Das der Mutter gegebene Versprechen, nie mit dem Spriten  – dies ist das Wort – anzufangen, hält er im Prinzip: Langsam ist der Traum gereift, ein Leichtathletikstar zu werden, und Askese ist darin inbegriffen, prinzipielle weiße Monate .
    Beim Militär hat er nichts Neues gelernt, außer durchhalten. Als er schon mit acht Jahren des Vaters Feldsoldaten aus den zwanziger Jahren sorgfältig studierte, ahnte er nicht, dass er zehn Jahre später, auf dem Gelände der Wirklichkeit Angriffsstrategien, Gedanken und Kenntnisse aus dem gleichen Buch wiederholen würde. Er entdeckt zu seiner Freude und Verwunderung, dass er schon vor dem neunten Lebensjahr die Grundausbildung zum Offizier abgeleistet hat, von Schießwinkeln und Kampfaufstellungskommandos bis zum Bau von Panzersperren.
    Jetzt wird nur alles wiederholt.
    Er bemüht sich, die Zeit beim Militär als das Abwaschen von Kindlichkeit zu betrachten. Hinterher wird er übertreiben, wenn er seine unerhörten Strapazen während des Militärdienstes beschreibt. Er lässt dann gern durchblicken, dass die Zugführerausbildung im I 20 gleichbedeutend ist mit einer Spezialausbildung bei Norrlands Feldjägern. Er erwähnt schwere Entbehrungen, zum Beispiel zwei Wintermonate mit unerträglicher Kälte im Zelt in den Wäldern um Hällnäs, oder Wintermanöver im Tärnabygebirge. Zwar wahr, doch kaum die Wahrheit. Es fällt ihm schwer, über diese dichterischen Übertreibungen die Kontrolle zu behalten.
    Entbehrungen sind es nicht. Er verweist jedoch gern auf seine Holzfällergene, die seinen Körper das meiste aushalten lassen. Schnee und Wald und Kälte hat es ja in seiner gesamten Kindheit gegeben, verdeutlicht er. Erzählt ergreifend, bis weit ins Alter, den erschütterten und mit großen Augen schauenden Enkelkindern von dem täglichen Kampf, Kiefern zu schälen für das Rindenbrot. Es ist nichts Besonderes, versichert er. Im Prinzip war nichts etwas Besonderes. Das war der richtige Standpunkt.
    Der Militärdienst endet nach fünfzehn Monaten. Er sieht sich selbst als eine Dichternatur in der Feldjägerausbildung, mit Holzfällergenen, wenn auch lieb, aber die Zukunft ist nebelverhangen.
    Trotz Aufforderung bewirbt er sich nicht um die Offiziersausbildung.
    In seinem Zug ist er keine Führergestalt.
    Es gibt Konflikte. Er fasst den Militärdienst als eine Prüfung des persönlichen Charakters des Menschen durch das Leben auf und findet bedrohliche Schwächen bei sich selbst. Eines Nachts bei einem Manöver schläft er auf seinem Posten im Schnee ein und erkennt, dass seine Schlappheit den Zug das Leben gekostet hat. Wie ihm sein Kompaniechef ins Gesicht brüllt.
    Noch ist er lieb.
    Eine längere Beziehung aus der Gymnasialzeit geht zu Ende. Er öffnet, nichts Böses ahnend, den Abschiedsbrief in der Unterkunft während des Einfettens der Marschstiefel und beherrscht sich nur schlecht. Der Horizont verdunkelt sich. Umeå ist nicht lustig. Er kommt sich vor wie ein irrtümlich in ein Militärgefängnis Verschleppter, wo vereinzelte Gefängniswärterinnen ihn höhnisch durch ein Gitter betrachten: In der Stadt gibt es nämlich zwei Regimenter, K 4 und I 20, mit zusammen dreitausend Wehrpflichtigen, die an den dünn gesäten Tanzabenden in Umeå verzweifelt sämtlichen möglichen Objekten nachstellen, ungefähr dreißig Frauen –

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