Ein anderes Leben
nie von Männern behelligt worden und haben deshalb aus natürlichen Gründen Abscheu voreinander entwickelt. Regelmäßig wird er in die Küche gezogen und muss Bekenntnisse über sich ergehen lassen, in denen die gemeinen Anschläge der abwesenden Schwester schonungslos aufgedeckt werden. Es fließen viele Tränen. Er stellt sich immer auf die Seite der Sprechenden – und versteht genau. Er ist ja lieb, setzt auch an diesem Mittsommerabend die Wintermütze auf . Die Beichten in der Küche sind willkommene Momente der Entspannung vom immer intensiveren Studentenleben: Er ist auch auf einem guten Weg mit seinem ersten, später abgelehnten Roman, dem er den Titel Bericht über eine Flucht zu Inseln gegeben hat. Das Manuskript schwillt allmählich auf vierhundert Seiten, aber das Beste daran, findet er, ist leider der Titel.
Das ist auf gewisse Weise niederschmetternd.
Eines Vormittags im Mai sitzt er an seinem Roman und hört ein gewaltiges Poltern aus der Küche: ein schwerer Fall, dann eine Art Gurgeln. Er hört, wie die magere Schwester Rothvik in die Küche eilt, und dann ertönt ein wilder Schrei, der ihn und Gustafsson aus ihren Zimmern herbeistürzen lässt.
Fräulein Rothvik, die sehr dicke, ist mit der Schläfe gegen die blechverkleidete Eckkante des Spülbeckens gefallen, sie hat sich den Schädel aufgeschlagen, das Gehirn ist ausgetreten, und die Küche ist voll von Blut und etwas Gelbem, das wie Gehirnmasse aussieht. Ohne jeden Zweifel ist sie mausetot. Sie unternehmen einen verzweifelten Versuch, sie aufzuheben, doch sie ist schlaff und enorm schwer, und im übrigen strömt das Blut noch. Die Schwester schreit wie von Sinnen, Gustafsson grummelt mitfühlend und umarmt spontan die Überlebende, er selbst ruft den Krankenwagen an, der kommt.
Sie ist immer noch mausetot und wird fortgebracht.
Die beiden Untermieter versuchen vergeblich, das dünne Fräulein Rothvik zu beruhigen, aber sie weint hemmungslos und wiederholt ein ums andere Mal Ja aber was soll aus mir werden, jetzt wo sie tot ist . Nichts an ihrem Verhalten lässt erkennen, dass sie ihrer Schwester gegenüber immer kritisch war oder sie, ehrlich gesagt, gehasst hat. Keiner der beiden Untermieter hat je solch nackte Verzweiflung gesehen, sie schluchzt und weint und jammert, es ist doch ihre geliebte Schwester, die sie allein gelassen hat. Und wir haben uns so geliebt, und jetzt ist sie allein, wie konnte sie nur, wie konnte sie nur.
Eine Stunde später klingelt es an der Tür. Zwei Polizisten stehen davor. Er öffnet, und der eine Polizist sagt Hier soll es einen Todesfall gegeben haben? Und er hört sich selbst sagen Sie kommen zu spät, wir haben schon alle Beweise weggeschrubbt . Gustafsson lacht nervös hinter seinem Rücken, und er versteht, dass es ihm durch diese unvergessliche Replik zum ersten Mal gelungen ist, einen tiefen Eindruck auf seinen Freund vom Zimmer nebenan zu machen.
Vielleicht eine Pointe, vielleicht seine erste richtig wirksame Theaterreplik, der so viele andere folgen sollen, wenn auch vielleicht nicht ähnlich unvergessliche; und hiernach wird Gustafsson ihn mit größerem Respekt betrachten, vielleicht mit Bewunderung. Aber die Polizisten lachen nicht, sie sehen ihn nur voller Abscheu an und gehen, ohne um Erlaubnis zu bitten, in die Küche und betrachten ungerührt den blutigen Brei, die letzten Reste des netten Fräulein Rothvik.
So endet es, das erste Jahr in Uppsala, in der Woche darauf ziehen sie aus, und auseinander, sehen sich nicht oft, eigentlich überhaupt nicht. Drei Jahre später debütiert Gustafsson. Fünf Jahre später er selbst.
Er mag Uppsala sofort. Es zeigt sich, dass nichts von dem, was er sich vorgestellt hat, stimmt.
Am ersten Tag nach der Eroberung des kleinen Zimmers bei den Schwestern Rothvik besucht er LundeQ und ersteht in diesem legendären Buchladen ein Exemplar von Takt und Ton im täglichen Umgang , ein Klassiker von dreihundertfünfundachtzig dicht bedruckten Seiten.
Wenn er in diesem neuen Milieu scheitert, dann soll es auf jeden Fall nicht an seiner Unwissenheit liegen. Er will alles wissen, dann mag es gehen, wie es will.
Er liest dieses Handbuch für den Zutritt zur wahren Welt sorgsam durch, liest es zweimal, weiß hinterher alles darüber, wie Besteck gedeckt und benutzt wird, in welcher Reihenfolge man in eine Sitzreihe im Theater geht, von rechts wie von links, mit Dame oder ohne, sowie die historischen Gründe dafür, warum man nicht (aber in gewissen Situtionen
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