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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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aber die Geschichte ist auch nicht so einfach. Er hebt die ostdeutschen Schulbücher sorgsam auf, kehrt viele Male zu ihnen zurück, lacht zuerst, dann kommt der Gedanke manisch: Wenn man uns nun hinters Licht geführt hat. Vielleicht ist es notwendig, die Geschichte neu zu schreiben. Die ostdeutsche, vom Zentralkomitee sicher durch und durch zurechtgelegte Übersicht darüber, wie alles zusammenhängt, sie ist auf jeden Fall nicht nur lächerlich, sondern auch eigentümlich irritierend.
    Nicht nur der scharfsinnige Dozent Villius und seine kritische Analyse historischer Texte à la Weibull spuken in seinem Kopf. Es ist, als kämen die wohlbekannten Fragen aus seiner Kindheit wieder hoch, die Fragen nach Gut und Böse, Sünde und Schuld, Himmel und Hölle, richtig und falsch. Wie hängt alles zusammen? Ausgezeichnete existentielle Fragen. Dann kamen die fundamentalistischen Antworten, sie stammten aus der Bibel oder aus der Postille des frommen Rosenius.
    Aber es waren ja nicht die Fragen, die falsch waren, sondern die Antworten. Wenn man uns nun hinters Licht geführt hat . Wenn alles ganz anders ist!
    Die Kinder des Fundamentalismus können leicht aus guten Gründen in die Irre gehen. Er sieht es ein, aber sein starker Charakter – gleichsam das Erbe! gerade die Mischung von Evangelischer Vaterländischer Stiftung und Tempelrittern! – macht indessen seine Bereitschaft zur Veränderung enorm.
    Er ist ja mit den richtigen Fragen aufgewachsen. Sie wurden nur falsch beantwortet. Aber er sollte dankbar sein für die Fragen.
    Er steht hier, im Vorhof zu seinem ersten Leben, weit offen für praktisch alles, auch die Geschichtsschreibung aus der DDR. Fasziniert liest er das Kapitel ›Das Eindringen opportunistischer und imperialistischer Ideen in die Arbeiterbewegung‹, das den Verrat der Sozialdemokratie und ihre Verantwortung für den Nationalsozialismus konstatiert, und denkt Man will uns einreden, dass wir dies als lächerlich betrachten sollen . Ist es denn nicht lächerlich? Doch, es ist lächerlich.
    Aber der Gedanke, dass er vielleicht hinters Licht geführt wird, verfolgt ihn. Vielleicht muss man die Geschichte umschreiben?
    Vielleicht waren die Monumente hohl. Nichts war aus einem Guss.

Die Woche in Greifswald ist voller Kontakte.
    Er denkt in Dankbarkeit an Rektor Nilsson von der Bureå Högre Folkskola, der gegen jeden Zeitgeist die junge Nachkriegsgeneration im Kirchspiel Bureå, auf jeden Fall die erste Pionierklasse, in der deutschen Sprache unterrichtete. In den Nächten treibt er durch die orgiastischen Jubiläumsfeste. Eine Studentengruppe gibt eine nächtliche Kabarettvorstellung, ihr Star ist eine junge Studentin, die er nach der Vorstellung trifft. Sie heißt Gisela. Wie ein Taifun bricht sie über den schüchternen oder vielleicht nicht mehr ganz so unbeholfenen Schweden herein, sie beginnen eine Beziehung, die schmerzhaft werden soll und die er nicht bewältigt. Es zieht sich in die Länge, später schreiben sie sich; sie will nach Schweden fliehen, aber er wagt nicht, die Verantwortung für sie zu übernehmen, wagt den Schritt nicht. Ihre Briefe immer verzweifelter.
    Nach Uppsala zurückgekommen, beginnt er einen Liebesroman zu schreiben, der in Greifswald spielt. Es ist Trash, Ausflüchte. Er hat Angst. Das passt nicht zu seinem Selbstbild, das lieb sagt, nicht feige; es wühlt ihn auf. Viele Jahre später schreibt er einen Roman über Sport und Politik, aber eigentlich glaubte er, er schriebe einen Roman über Greifswald.
    Das Jubiläum in Greifswald immer chaotischer, der Widerstand gegen die Unterdrückung brodelt, wenn das, was er sieht, nun Widerstand ist. Man scheint jedoch das zähe, aber trotz allem freiheitlich gesinnte Sozitum in dem freundlich gesinnten Staat im Norden mit Wohlwollen zu betrachten. Die ostdeutschen Studenten voller Optimismus. Bald Aufruhr! Gegen die sowjetischen Besatzer!!!
    Er und Gisela ziehen wie trunkene Schattengestalten durch die Nächte.
    Am Tag des Wettkampfs reißt er sich zusammen, springt aber miserabel und wird Zweiter. Ihm ist es egal, er ist besessen und voller Angst. Plötzlich findet er sich hinausgeworfen in dieses Europa, in dem er später einen so großen Teil seines Lebens verbringen wird.
    Er reist immer öfter hinaus nach Europa. Einige Male aufgrund des Sports.
    Er gilt als großes Talent, als unerhört geschmeidig, aber hüftsteif. Es ist die psychologische Definition, die von ihm gegeben wird.
    Wer ist er? Geschmeidig, aber steif .
    Er

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