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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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der liederlichen und wollüstig großen Anzahl, die an ein Bordell denken lässt –, und er sagt Jaa? in dem natürlichen Tonfall, an den er sich nachträglich erinnern und den er bewundern wird, sie sagt Was ist das da??! Was ist das da!!! und im gleichen natürlichen Tonfall erwidert er Ja aber wenn man eine große Partie kauft, wird es spottbillig, und Erling hat sie besorgt , und schiebt die Schublade zu.
    Kein Wort zur Erklärung. Sie wird ganz stumm und redet nicht mehr darüber.
    Plötzlich fühlt er, dass er erwachsen ist. Er ist mit einer Weltraumrakete zu einem anderen Planeten geflogen, ist frei geworden, es lief glatt, und es war ganz natürlich. Das ist es, was er sich einredet. Später wird er einsehen, dass er nicht frei ist.

Er will frei sein, hat Angst, eingefangen zu werden. Plötzlich schnappt sein Liebsein zu wie eine Mäusefalle und erweist sich als bloße Feigheit.
    Im Herbst 1957 ist er auf dem Weg nach Greifswald; zum ersten Mal bewegt er sich außerhalb der Grenzen Schwedens. Die Universität Greifswald feiert ihr fünfhundertjähriges Bestehen, und aus Schweden ist eine akademische Sportlergruppe eingeladen worden.
    Er nimmt am Hochsprung teil. Dies ist sein Eintritt in die DDR, ein Staatsgebilde, das nach und nach eine gewisse Rolle für ihn spielen wird. Nach den Ereignissen in Budapest ist die politische Stimmung aufgeheizt, doch er ist politisch noch unschuldig. Erstaunlicherweise besucht er jedoch eine Buchhandlung in Greifswald und kauft drei Geschichtsbücher aus der DDR, die er mit Verwunderung liest. Es ist die alte Geschichte, aber umgedeutet vom neuen Regime, pflichtschuldigst fasst er sie als komisch auf, fühlt sich aber dennoch angezogen.
    Alles unterscheidet sich von dem, was er gelernt hat, alles hat im Grunde eine sowjetische Erklärung.
    Mit großen Augen liest er politisierte Geschichte. Im Jahr 1769 bekommt der Engländer James Watt das Patent für eine von ihm konstruierte Dampfmaschine, aber, fügt dieses Schulbuch hinzu: ›Schon vorher hatte der Russe Iwan Polsunow eine Dampfmaschine von anderem Typ konstruiert, die jedoch in Vergessenheit geriet.‹ Wie albern. Ein weiteres Beispiel dafür, dass eigentlich ein sowjetischer Forscher das Fahrrad erfunden hat. Oder? Nach einer Weile findet er, dass das Zitat zum Nachdenken anregt. Wer sagt denn, dass dieser Polsunow wirklich nicht existiert hat? Und die Dampfmaschine erfunden hat?
    Wenn man uns nun hinters Licht geführt hat?
    Bevor er endgültig zur Literaturwissenschaft und zur Arbeit an einer Lizentiatabhandlung übergewechselt ist, hat er geplant, Historiker zu werden.
    Er studiert Geschichte und Politikwissenschaft.
    Er wird von Dozent Hans Villius in das quellenkritische Denken der alten Weibullschen Schule eingeführt und schreibt eine Abschlussarbeit über Hitlers Befehlserteilung zwischen zwölf Uhr und siebzehn Uhr am 25. August 1939.
    Es ist eine Wonne, sich in diesen Nachmittag im deutschen Hauptquartier zu vergraben. Er lebt sich in diese fünf Stunden ein, wird buchstäblich verschlungen, liest Tagebücher und kombiniert. General Halders Tagebuch, entdeckt er, ist eine Goldgrube, nahezu auf dem gleichen Niveau wie Der Feldsoldat und Takt und Ton im täglichen Umgang ; Hitler änderte um 16.30 Uhr einen Angriffsbefehl nach Osten. Was geschah?
    Villius ist ein glänzender Ermittlungsleiter. Alles wird zu einer beinahe kriminalistischen Aufgabe. Misstrauisch zu sein ist eine Tugend, Wahrheit stets ein zweifelhafter Begriff. Seine Studenten halten bald alle historischen Texte für manipuliert. Man muss davon ausgehen, dass man hinters Licht geführt wird. Die Aufgabe des Untersuchers besteht darin, dies mit Hilfe von Quellenkritik aufzudecken. Nach einiger Zeit betrachtet er die Geschichte wie einen Kriminalroman von englischem Zuschnitt, wo die Verdächtigen sich im letzten Kapitel in der Bibliothek sammeln und der Mörder, also die etablierten historischen Wahrheiten, oder eher die Sieger, die die Lügen der Geschichte produzieren, vor den verblüfften Augen der Leser entlarvt werden.
    Aussagen haben etwas Zweifelhaftes. Die Frage ist, ob man überhaupt etwas glauben kann. Das Bild des Kompasses am Nordpol, dessen Nadel sich im Kreis dreht, schwebt ihm jedoch in dieser Krise des Fundamentalismus noch nicht vor.
    Die DDR ist ein fremder Planet.
    Das Jubiläum in Greifswald ist ein an Erinnerungen reiches Ereignis, in vieler Hinsicht. Alle scheinen Dissidenten gegenüber dem Unterdrückungsregime zu sein,

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