Ein anderes Leben
der Bethauskaffee ausgetrunken war und die Gemeinde sich nach Hause begeben hatte. Wäre sie nur nicht so umgeben gewesen!
Vielleicht hätte sie zugehört.
Ein schwedischer Schriftsteller aus Sjön, Hjoggböle, mit mehreren beachteten Romanen und in mehrere Sprachen übersetzt, hätte sie vielleicht bekehren können, so dass sie erweckt worden wäre. Er hätte vom schwedischen Modell erzählen können. Vielleicht nicht direkt vom Geist von Saltsjöbaden, das wäre zu dick aufgetragen, aber ein bisschen über Volksbewegungen und so. Freies kollektives Schaffen. Arbeit für alle! Ein bisschen vom Arbeiterbildungsverbund. Sie wirkte ja eigentlich so nettig. Aus ihrem Mund kamen zwar steinharte Anklagen gegen den Unterdrückerstaat, und sicher würde sie, ja auch sie, ihn am Anfang scheißliberal nennen.
Aber war sie nicht trotz allem das Mädchen aus dem Dorf?
Von den Mädchen im Aufruhr und ihrem pietistischen Hintergrund ging etwas zutiefst Beunruhigendes aus, das ihm als abtrünnigem Erweckungsprediger im Exil Sorgen bereitete.
Überall diese Bethausabtrünnigen! Im Frühjahr 1971 verfolgt er während einiger Wochen den Prozess gegen Horst Mahler. Unter den intensiv engagierten Zuschauern, nur mit Mühe von der Polizei kontrolliert, war er fast der einzige Mann. Der harte Kern unter den Zuschauern war weiblich. Es gab etwas, war es nicht pietistisch!, das ihn an etwas erinnerte und das ihn zugleich erschreckte und lockte.
Es führte immer irgendeine Verbindung zur RAF in dieser Stadt. Manchmal liefen die Kontakte über die Schule. Sein neunjähriger Sohn Mats spielte jeden Tag mit einem Mädchen namens Jette, dessen Vater der berühmte Kabarettist Wolfgang Neuss war, der sich gerade in Mexiko im Drogennebel befand, doch die Mutter des Mädchens, Margareta, war in Kalix geboren, und deshalb reell; und der berühmte linke Anwalt Horst Mahler war ein Freund von Wolfgang. Selbst hatte er Mahler persönlich jedoch nie getroffen, nur ständig durch diese kafkaesken Beziehungen von ihm reden hören.
Dann kam der Prozess. Mahler war vom Theoretisieren zur Handlung übergegangen. Nicht wie Feltrinelli in Italien, bei dem die Sprengladung aus Versehen vor dem Bauch detonierte, aber beinahe so. Mahler wurde plötzlich angeklagt, wegen Beteiligung an einem Bankraub. Man fand es unbegreiflich, Horst Mahler war ein sehr angesehener linker Anwalt, und alles war sicher eine Provokation, bis hin zu dem Augenblick, als er aufgrund unwiderlegbarer Beweise zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde. Später, wieder in Freiheit, trat er den langen, aber sehr schnellen Marsch durch die Ideologien an, um völlig natürlich am äußersten rechten Rand zu landen, wurde er nicht Bankchef? oder wie man sagte: immerhin noch ein wenig links von Dschingis-Khan.
Die Wochen im Gerichtssaal von Moabit waren spannend. Besonders bewunderte er den messerscharfen RAF-Anwalt, Mahlers Verteidiger, der schonungslos die Rolle der Unterdrückergesellschaft in dieser Provokation gegen den unschuldigen Mahler darlegte . Der Anwalt hieß Otto Schily. Er sollte ihn weit später wiedersehen, 2006, bei der Einweihung des neuen Hauses der Akademie der Künste am Pariser Platz (er ist dann selbst Mitglied); Schily ist etwas runder geworden, grauhaarig, ist aber weiterhin messerscharf und schonungslos in seinem Kampf gegen Terrorismus und jetzt sozusagen als höchster Polizeichef, also Innenminister.
Es gab ja soviel Begabung in der Westberliner Linken. Manche brannten aus, zerstörten ihr Leben – und das anderer. Andere stiegen auf und nahmen am Ende ihre natürlichen Positionen ein, also ganz oben.
Die Kunst saß in der Klemme, wenn die Prärie brannte.
Er begleitet Peter Weiss und Gunilla Palmstierna zur Premiere von Trotzki im Exil in Düsseldorf. Peter, einst als der wertvollste Sympathisant der DDR betrachtet und als nützlicher Idiot bezeichnet, steht seit seinem Welterfolg mit Marat / Sade ununterbrochen im Sperrfeuer und wird jetzt von Teilen der militanten Linken gehasst, und heftige Auseinandersetzungen um die reine Lehre branden auf.
Peter Weiss ist kein Reinlehriger.
Die Frage ist, ob er, ihrer Meinung nach, überhaupt fürs Theater schreiben dürfte; und dann auch noch eine Uraufführung in Düsseldorfs neuem Theater, vor den Nerzen . Die Generalprobe wird von Aktionsgruppen gestört, die lärmen und Hohngelächter anstimmen, und in der Pause wird die Bühne besetzt, und die Lautsprecheranlage wird zerstört, an ein Weitermachen ist nicht zu
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