Ein anderes Leben
denken.
Am Tag der Premiere wird in aller Hast ein Treffen der Aktionsgruppen mit Peter Weiss in einem engen Raum an der Universität arrangiert. Er selbst macht Notizen. Die Stimmung feindlich. Peter Weiss bezeichnet die Störaktion als unpolitisch und meint, dass sie einem reaktionären Rückschlag Vorschub leiste, und Gunilla Palmstierna – eine Freundin, die mehrere Jahre mit E. zusammen im Kulturrat gesessen und die Richtlinien für die neue Kulturpolitik skizziert hat, die von »freiem kollektivem Schaffen« und von Unterstützung für »Freie Gruppen« gesprochen hat und davon, dass die Kulturpolitik den »schädlichen Wirkungen der Kommerzialisierung« entgegenwirken solle – so schreiben sie, so haben sie gemeinsam gedacht – Gunilla hat das Bühnenbild gemacht, und sie erzählt von der Reaktion der Bühnenarbeiter auf den gestrigen Eklat.
An diesem Theater, vielleicht Deutschlands autoritärstem, wo Bühnenarbeiter und Theaterleute schwer unterdrückt werden und unterbezahlt sind, mit langen Arbeitszeiten und ohne jeden Einfluss, existiert eine starke Unzufriedenheit, die langsam zu einem wachsenden politischen Bewusstsein geführt hat. Jetzt statt dessen eine Demonstration, die die Arbeiter rasend macht, sie dazu gebracht hat, mit Knüppeln in den Händen hinter der Bühne zu stehen. Im Handumdrehen sind die Linkstendenzen der letzten Jahre in diesem Theater zunichte gemacht. Die Arbeiter haben die Demonstration als Kränkung empfunden.
Drei Stunden sitzen sie, die Luft ist fast aufgebraucht. Eine der Frauen unter den Aktivisten – die Frauen sind in der Mehrzahl, und er fasst sie nicht als fromme Pietistinnen auf – reißt plötzlich seinen Notizblock an sich, um zu lesen, was er geschrieben hat. Es ist schwedisch. Er bittet sie, ihm den Block zurückzugeben. Sie fragt eiskalt warum. Er sagt, es ist sein Block. Sie blickt ihn höhnisch an, sagt kühl Schwein! und wirft den Block zurück. Er fühlt sich mit den Künstlern identifiziert, die von den Bürgern gekauft sind; sie sehen sich lange an. Er enthält sich seines jungenhaft warmen Lächelns.
Nein, sie ist im Unterschied zu Ulrike Meinhof nicht das Mädchen aus dem Dorf, und er kann nicht von ihr träumen.
Am Abend findet die Premiere in verblüffender Ruhe statt. Eine fantastische Sammlung von Nerzen und paillettenbesetzten Abendkleidern stellt sich ein. Insofern ist der Ausgangspunkt der Aktionsgruppen zutreffend. Die Schauspieler bekommen lang anhaltenden Applaus, aber Peter Weiss wird von lauten Buh-Rufen empfangen, als er auf die Bühne steigt.
Das letztere wird fast als Erleichterung empfunden.
*
Die Kunst saß in der Klemme.
Sozialistische Theaterstücke auf glanzvollen Bühnen waren eine Anomalie. Poesie nach Auschwitz war eine Unmöglichkeit. Über Schreibmaschinen gebeugte Schriftsteller glichen komisch wirkenden Außenministern in der Zeit der Weimarer Republik, die auf der Toilette thronten, mit gekappten Leitungen; ihre Ratschläge kamen nicht an.
Handlung das einzige, was blieb. Verbunden mit dem Risiko, in den Flammen der Prärie zu verbrennen.
Er sucht tastend nach einem Ausweg, will sehen, welche Alternativen es gibt. Er knüpft Kontakte zu einer Theatergruppe in Kreuzberg, sie sind herzlich und fröhlich, und keiner nennt ihn mit zischender Stimme Schwein. Eine von ihnen spielt auch die Mutter Aase in Peter Steins Peer Gynt -Inszenierung in der Schaubühne am Halleschen Ufer, er wohnt den Proben bei. Es wird eine wunderbare Inszenierung, er lernt mehr über Theater als in vielen Jahren als Theaterkritiker. Er denkt darüber nach, fürs Theater zu schreiben. Was für ein Geheimnis verbarg sich darin? Könnte er es selbst?
So ist es mit Berlin. Er lernt.
Er begann die Arbeit am Sekundanten am Tag nach dem sowjetischen Einmarsch in Prag 1968; einige Wochen später sollte sein Roman über die Auslieferung der Balten erscheinen.
Es war im August 1968, das Jahr, in dem die Welt erbebte. Er begann das Buch in einem Garten in Uppsala zu schreiben. Den größten Teil dieses Romans über Sport und Politik schrieb er aber in Westberlin, wo er zuerst von Dezember 1969 bis Juli 1970 lebte, danach ein zweites halbes Jahr im Frühjahr 1971.
Man könnte auf diese Weise die geographische und die zeitliche Entstehung des Buchs präzisieren, also den Punkt, von dem aus die Geschichte über den mogelnden Hammerwerfer und seine Zeit betrachtet wurde.
Westberlin wurde also dieser Punkt.
Eine sehr schwedische Geschichte, die
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