Ein anderes Leben
wohl etwas gesehen, das nicht nur vom Sport handelte. Wie kam es, fragte er, zu diesem schmerzerfüllten Porträt eines mogelnden Vaters und seines Sohns, wenn der Autor, wie es hieß, seit seinem sechsten Lebensmonat vaterlos gewesen war? Woher konnte dann dieser junge Autor wissen, wie ein Vater sein sollte?
Ja, deshalb wurde es vielleicht, wie es wurde.
Im Vorwort des Buchs stand, dass der Eingeweihte in einem der zentralen Ereignisse des Buchs leicht eine Parallele zu einem in der schwedischen Sportgeschichte berühmten Rechtsfall erkennen könne, aber dass die darin verwickelte Person in keiner Weise das Vorbild für Mattias Jonsson-Engnestam-Lindner abgegeben habe. Und dass als Vorbild für ihn und sein Leben nur die Gesellschaft und die Entwicklung gedient habe.
Und das kann man ja immer sagen.
Er hatte den Hammerwerfer aber persönlich getroffen, das Vorbild. Nicht weil er die Romanfigur nur auf ihn beschränken wollte oder konnte, sondern weil er ihn sehen wollte. Er lebte jetzt in der Nähe von Östersund. Er war Pferdepfleger, er konnte gut mit den Pferden reden, sie waren wie Hunde, streichelten mit ihren Mäulern seine Wange und sagten ihm, dass er nicht traurig sein solle. Es war schwer für ihn, sich zu erinnern. Ein, zwei Jahre danach starb er. Er war genau der feine und bescheidene Sportkamerad und das Vorbild, das er als Kind fünfundzwanzig Jahre zuvor geahnt hatte.
Er hatte recht gehabt. Es war wohl im Grunde die Schuld der Stockholmer.
Das Buch erschien 1971.
Der Sekundant handelt von einem Betrug. Einem existierenden Betrug, von einem wirklichen Menschen verübt. Aber es ist kein institutionalisierter Betrug im Dienst des Staats. Kein Doping.
In diesem Roman über Sportbetrug nicht ein Wort über Doping.
Er nahm an, dass es irgendwo Fakten gab. Aber das war ein paar Jahre später. Er sollte 1972 ein Reportagebuch über die Olympischen Spiele von München schreiben, die Spiele, bei denen die DDR fast jeden Widerstand brach und als verhältnismäßig kleine Nation (als Staat noch nicht anerkannt, aber auf dem Weg dahin, teilweise dank ihrer sportlichen Erfolge) sich mit den Größten messen konnte. Aber auch damals kein Wort über Doping. Er wusste, dass man in der DDR Muskelfasertests bei Siebenjährigen vornahm, um zu wissen, welche man zu Kugelstoßern (kurze Fasern) oder zu Springern (lange) heranziehen sollte; aber das war alles.
Im Herbst 1972 erlangte auf einmal ein Spezialgebiet gewaltige Publizität, das Blutdoping. Er sitzt in einer Diskussionsrunde im Fernsehen, als ein Arzt und Professor an der Sporthochschule Göteborg erzählt, dass man jetzt legale und medizinisch begründete Experimente mit den Studenten gemacht habe, Hochsprungtraining und Blutentnahme und Blutrückführung. Und dass man dadurch die Ergebnisse um fünf bis zehn Prozent verbessern konnte. Er rechnet schnell im Kopf aus, dass man auf diese Weise die Zeiten über 3000 Meter Hindernis um 30 Sekunden verbessern kann, was dem Unterschied zwischen einem Kreismeister in Västerbotten und einem Medaillengewinner bei den Olympischen Spielen entspricht. Der Arzt bestätigt dies.
Ihm ist irgendwie, als stürze die Decke ein. Was ist dann das Messbare.
Er erinnert sich jedoch, bei dieser Debatte von einem Sieg für die medizinische Forschung gesprochen zu haben.
Während des Jahres in Berlin ist er noch nicht im Bilde, was Doping angeht, wie die meisten.
Später wollten alle alles über das systematische Doping in den Ostblockländern wissen. Doping auch zur Zeit des Sekundanten , denkt er nostalgisch. Es handelt sich dann um Staatsdoping, um politische Ziele zu erreichen. Staatsdoping sollte später von Marktdoping ersetzt werden, für die Sportler, die es sich leisten konnten, die Privatunternehmen, also die geheimen Labors zu bezahlen. Und auf diese Weise die kommerziellen Früchte des Sportmarkts zu ernten.
Er schreibt aber in diesem Buch viel mehr – und nostalgisch – über die verlorenen Möglichkeiten der Arbeitersportbewegung. Er träumt normative Träume. Er weiß nicht, dass er sich an einem Wendepunkt befindet. Ein Roman über den Sportbetrug, ohne zu wissen, welche Wendung die Sportgeschichte gerade in diesen Jahren nimmt. Hauptsache, es werden Rekorde erzielt , wie der Hammerwerfer sagt, oder Große Wettkämpfe verlangen große Resultate. Aber die Rekorde, die der Dopingschwindel hervorbrachte, erwiesen sich später als unschlagbar; die Entwicklung verfing sich in ihrer eigenen Schlinge, zog den
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