Ein anderes Leben
Knoten, der sie fesseln sollte, selbst zu. Es konnten fast keine Rekorde mehr erzielt werden.
Mattias Jonsson-Engnestam-Lindner hatte ein Problem vorausgesehen, vielleicht, wenn auch nicht gerade dieses.
Er verlässt Westberlin.
Am letzten Tag verabschiedet er sich von ihrer Putzfrau, Frau Meckel, die sie von Peter Handke geerbt hatten.
Sie haben sich sehr gemocht.
Frau Meckel wohnt in Kreuzberg, sie ist Flüchtling aus den deutsch-polnischen Gebieten und tief gläubig. Er weiß, was der Ausdruck tief gläubig besagt. Sie macht sich Sorgen um ihn, sie hat Angst, dass er angesteckt wird von der Politik . Sie sprechen oft über religiöse Fragen. Sie hat voller Sorge die politischen Poster betrachtet, die er in seinem gigantischen Arbeitsraum angebracht hat, in dem der vier Meter lange Marmortisch steht. Sie erzählt ihm, dass sie jeden Abend für ihn betet, damit die Ansteckung durch die politische Sünde nicht seine Seele zerstört.
Am letzten Tag gibt sie ihm ein handgeschriebenes Tagebuch mit Erinnerungen aus ihrem Leben; sie wuchs in Breslau auf. Es ist ein braunes Heft von vielleicht achtzig Seiten. Er bedankt sich und sagt, er wolle es gern lesen, was er später auch tut. Sie fragt ihn anschließend, ob er es ihr übelnehmen würde, wenn sie ihn bäte, gemeinsam mit ihr niederzuknien und zu beten. Selbstverständlich kniet er mit ihr nieder. Sie betet für ihn, und dafür, dass nicht die Politik – sie wiederholt das Wort, die Politik – ihn anstecke und sein Leben zerstöre. Sie hat Tränen in den Augen, ihm geht es genauso, er verbirgt es aber, fast so, als schäme er sich.
Danach nehmen sie Abschied voneinander. Das ist das Ende seines Jahres in Westberlin.
Kapitel 9
EINE THEATERBÜHNE IN MÜNCHEN
Sturm?
Er sollte sich wirklich nicht über den Sturm beklagen, sagen die anderen; zuerst der um Die Ausgelieferten und jetzt dieser um Der Sekundant . Starker Gegenwind und starker Rückenwind zur gleichen Zeit sollten dich aufrecht stehen lassen.
Die Reaktionen der Sportseiten auf den Sekundant en pendeln zwischen Hingerissenheit und Entrüstung. Er hat die Grenze eines Reviers überschritten, ihres Reviers. Er ist ein Eindringling aus der Welt der Kultur. Oder ein Überläufer, nicht ungleich dem Verräter, der auf dem Schulhof mit Schneebällen zum Feind überlief. Aber gleichzeitig ist Der Sekundant auf den Kulturseiten eine Sensation, weil der Roman die Liebe gestaltet, die Intellektuelle verschämt im Innersten gespürt, aber nicht zu gestehen gewagt haben. Also die zum Sport. Und sie ›stubenrein‹ macht?
›Ein überreiches Buch, bei dem jeder das Niveau und die Schicht seiner Lektüre selbst wählen kann. Wie jemand auf so viel Einsicht über seine Zeit und sein Leben verzichten wollte, verstehe ich nicht‹, schreibt Karl Vennberg in Aftonbladet . Dagens Nyheter schickt einen Reporter – der Autor ist angesichts des Rezensionstages geflohen – und widmet ihm fünf Spalten auf der ersten Seite. Großes Bild, auf dem er mit seiner Frau auf der Tribüne des Idrætsparken in Kopenhagen sitzt. Der Sekundant im Sportpark. Der Chefredakteur Olof Lagercrantz schreibt in seiner ganzseitigen Rezension: ›Jeder Schritt, den er tut, bietet sensationell frische Blicke auf die Gesellschaft und den Menschen. Es ist von einem Mann geschrieben, der jetzt in seinem siebenunddreißigsten Lebensjahr zur Meisterschaft gelangt ist.‹
Das genau ist es. Siebenunddreißig Jahre und auf dem Höhepunkt seiner Karriere, und was soll jetzt kommen? Leere?
Fängt es jetzt an?
Er gibt sich Tagträumen hin über Romane, die er geschrieben hat, und das, was eventuell, fast ganz sicher, geschrieben werden soll; nur im eben jetzt ist alles leer. Im früher ist es prima, und im bald wird sicher auch alles prima werden. Nur das, was im eben jetzt ist, steht völlig still. Die fantastische Erfolgswelle legt sich wie ein Kartoffelsack auf seine Schultern, und etwas stimmt nicht, etwas ist nicht in Ordnung.
Tagebucheintragung vom 13. Januar 1972.
Acedia? Weiß nicht einmal, was das bedeutet. Auf jeden Fall verflucht melancholisch. Sprach (zu lange!) mit Bo S. am Telefon, über Sportpolitik. Das Erschreckende – allerdings gilt das nicht für Bo – ist, dass jede Sportdiskussion bei Null anfangen muss. Wie elementar jede Argumentation sein und werden muss, bevor man zu dem kommt, was spannend und konstruktiv ist.
Ich weiß nicht, ob ich die Kraft habe. Zu überhaupt etwas eigentlich. Ich bin so schrecklich
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