Ein Ballnachtstraum
die an ihrem Schleier vor dem Garderobenspiegel nestelte. „Wo bleibt denn Thomas‘ Dienerschaft? Soll ich etwa ohne Eskorte bei meiner eigenen Hochzeit erscheinen? Und wo ist Horace? Er müsste mich doch wenigstens begleiten.“
„Nun hören Sie schon auf zu zetern! Ich weiß es auch nicht“, antwortete Eloise enerviert und nahm Thalias seidengefütterten Umhang vom Garderobenständer. „Und hören Sie auf, an Ihrem Schleier herumzuzerren.“
Sie öffnete die Haustür. Der verhangene graue Himmel wirkte nicht sehr vielversprechend für eine Hochzeit. Ein kalter Wind wirbelte eine alte Zeitung hoch. Ein Pastetenverkäufer schob seinen Karren eilig die leere Straße entlang.
Thalia machte zwei zaghafte Schritte und verzog das Gesicht beim Anblick der schwerfälligen, keineswegs eleganten Droschke. Der Kutscher starrte missmutig mit hochgestelltem Kragen und eingezogenen Schultern in den trüben Regentag. „Etwas Vornehmeres konnte Thomas für mich nicht aufbringen? Das ist ja nicht besser als eine Bierkutsche.“
Eloise seufzte. „Darüber können Sie mit ihm nach der Trauung sprechen, wenn wir es überhaupt noch rechtzeitig schaffen. Vermutlich hat er die elegante Kutsche für die Reise aufs Land vorgesehen.“
Thalia verharrte störrisch auf den Steinstufen und stampfte mit ihrem zierlichen Fuß auf. „Wieso hat mein Bruder eigentlich so früh das Haus verlassen? Ich habe gar nicht bemerkt, dass er nach Hause kam.“
Eloise rollte die Augen zum Himmel. „Steigen Sie nun in die Kutsche oder nicht?“
Thalia blieb eigensinnig stehen. „Und wenn Horace wieder zu spielen angefangen hat?“
„Nun machen Sie mal einen Punkt!“, sagte Eloise in ihrem strengsten Gouvernantenton. „Das ist völlig unwichtig. Sie beginnen ein neues Leben als Gemahlin eines Landedelmannes. Entweder gibt Lord Thornton seine Laster auf, oder er ist dem Untergang geweiht.“
„Und wer führt mich dem Bräutigam zu, wenn er nicht auftaucht?“, fragte Thalia halsstarrig.
„Der Onkel des Baronets ist anwesend. Lady Heaton hat gewiss Verständnis dafür, dass Sie keine Schuld am Verhalten Ihres Bruders trifft.“ Eloise gab ihr einen sanften Schubs. In diesem Augenblick verließ Major Dugdale sein Haus, eilte mit raschen Schritten herbei und wedelte mit einer Zeitung in der Hand. „Beeilen Sie sich. Das alte Lästermaul nähert sich.“
Thalia tastete an ihren Hals und stieß einen Schreckenslaut aus. „Das Medaillon mit der Locke meiner Mutter! Ich wollte es in Erinnerung an sie tragen.“
„Wir holen es nach der Trauung“, seufzte Eloise am Ende ihrer Nervenkraft. „Sir Thomas hat gewiss nichts dagegen einzuwenden, hier vorbeizufahren.“
„Nein“, jammerte Thalia mit Tränen in den Augen. „Ich will es jetzt. Ich will, dass meine Mutter an diesem Tag bei mir ist.“
Eloise bedachte Major Dugdale mit einem frostigen Blick, griff Thalias Arm, zog sie ins Haus zurück und schlug die Tür zu, gegen die der Major ungeduldig mit der Faust trommelte. Thalia stürmte die Treppe hinauf. Eloise lief rastlos in der Diele auf und ab.
„Beeilen Sie sich“, drängte sie. „Gleich wird es regnen, und die Fahrt dauert eine Ewigkeit. Haben Sie das Medaillon gefunden?“
Keine Antwort. Der Major schien aufgegeben zu haben. Sie hörte, wie Thalia oben Schubfächer aufzog und vor sich hin murmelte. Aus der Richtung von Lord Thorntons Schlafzimmer fiel eine Tür ins Schloss. Dann Stille.
„Thalia?“, rief Eloise und fuhr zur Treppe herum. „Das Medaillon lag vorhin auf Ihrem Frisiertisch. Vielleicht ist es heruntergefallen. Haben Sie auf dem Teppich nachgeschaut?“
Wieder Stille. Und dann - was war das bloß für ein Geräusch? Ein Schrei? Gütiger Himmel. Was war jetzt schon wieder geschehen?
Eloise stürmte die Treppe hinauf. Thalias Zimmertür war verschlossen, aber sie hörte, wie sie sich dahinter bewegte. Sie hämmerte mit der Faust dagegen, bis die Tür sich langsam öffnete.
„Was in Gottes Namen …“
Und plötzlich wusste sie, dass etwas Schreckliches passiert war. Das Zimmer war in einem heillosen Durcheinander, nicht die übliche Unordnung, die ein junges Mädchen im Handumdrehen mit verstreuten Kleidern, Hüten und Bändern zu bewerkstelligen vermochte. Thalia stand wie gelähmt neben dem Bett, das blanke Entsetzen war ihr ins Gesicht geschrieben. Ihr durchsichtiger Schleier lag auf dem Boden, Tränen liefen ihr über die aschfahlen Wangen.
Eloise wollte zu ihr, und dann fiel ihr eine Bewegung im
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