Ein Ballnachtstraum
den Säugling an ihre Mutter weiter.
Janes Schwestern Miranda und Caroline stürmten mit ängstlichen Augen ins Zimmer. Man hatte sie offenbar von den tragischen Ereignissen unterrichtet. Fehlte grade noch, dass Drakes Schwestern Chloe und Emma in heller Aufregung hereinplatzten.
„Unten auf der Straße hat sich eine kleine Menschenmenge versammelt“, sagte Caroline vom Fenster her. „Sie schauen mit ernsten Gesichtern zu uns herauf. Man könnte meinen, das Leben des Kronprinzen sei in Gefahr.“
„Winke den Leuten zu“, bat Jane milder gestimmt und warf ihrem Gemahl einen aufmunternden Blick zu. „Lass sie wissen, dass alles wieder gut ist.“
Grayson trat ans Fenster und winkte dem Volk mit einer Windel seines Sohnes zu. Die Zuschauer klatschten jubelnd in die Hände und winkten erleichtert zurück. Plötzlich schien Grayson wieder zu Verstand zu kommen, wandte sich zu Drake, dem stummen Zeugen der in letzter Sekunde abgewendeten Familientragödie.
„Du bist doch nicht ohne Grund gekommen. Willst du mit mir reden? Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Nein, Grayson, das kann warten.“ Auch Drake fühlte sich mitgenommen von dem Drama.
Grayson dämpfte die Stimme, legte ihm einen Arm um die Schultern und führte ihn zur Tür. „Du behältst auch in der Krise einen kühlen Kopf. Genau diese Stärke gab mir Kraft, um das durchzustehen. Danke, Drake. Ich will mich erkenntlich zeigen. Was hast du auf dem Herzen?“
„Nichts.“ Drake betrat den Flur. „Es ist alles in Ordnung, und ich kann dich verstehen.“
„Wirklich?“ Grayson folgte ihm und wirkte ziemlich hilflos. „Ich bin in Panik geraten. Das passiert mir nie, aber als ich fürchtete, mein Sohn stirbt … kannst du das nachvollziehen? Letzte Woche war Brandons Geburtstag. Die Erinnerung an ihn und der Schmerz, einen Menschen zu verlieren, den man liebt, haben mich sehr bedrückt.“
Drake spürte, wie sich eine unangenehme Schwere über ihn legte. Brandons gewaltsamer Tod hatte die Familie tief getroffen. In guten, aber vor allem in schlechten Zeiten bildeten die Boscastles eine eingeschworene Gemeinschaft, die unverbrüchlich zusammenhielt, worüber sich viele Bekannte wunderten.
„Das habe ich nicht vergessen“, sagte Drake leise und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sein eigener schwelender Zorn über Brandons Ermordung nicht einen Beitrag leistete zu seiner inneren Unrast, die sich in letzter Zeit zunehmend steigerte.
„Ich würde lieber tausend Tode durch Folter sterben, als meinen Sohn oder Jane zu verlieren. Liebe ist etwas Grässliches, Drake. Hüte dich davor. Wie konnte ich das nur zulassen?“
Graysons kraftvolle Gestalt in der Tür des vom Kerzenschein beleuchteten Kinderzimmers warf einen riesigen Schatten.
„Ich weiß auch nicht, wie dir das passieren konnte.“ Drake entfernte sich im halbdunklen Flur. Dies war nicht der weise Rat, den er gesucht hatte. „Beruhige dich, du hast deine Lieben nicht verloren.“
„Gottlob.“ Grayson schloss die Augen, holte tief Atem und seufzte. „Ich rede Unsinn. Hör nicht auf mich. Liebe ist etwas Wunderbares. Ich hoffe, dass auch du eines Tages …“
Er öffnete die Augen. Drake war verschwunden. Jane stand neben ihm, mit dem zufrieden gurgelnden Baby im Arm. Ihr langes honigblondes Haar hatte sich gelöst und wallte ihr seidig schimmernd über die Schultern.
„Was wollte dein Bruder zu so später Stunde von dir, Grayson?“, wollte sie leise wissen. „Ist sonst noch etwas geschehen, abgesehen davon, dass du die Nerven verloren hast, sobald ich das Haus verließ?“
Er sah sie streng an. „Ich verliere nie die Nerven, und ich habe keine Ahnung, was Drake wollte.“
„Vielleicht wäre es besser gewesen, ihn danach zu fragen, als das ganze Haus unnötig in Aufregung zu versetzen“, sagte sie beiläufig.
„Irgendwie wirkte er besorgt“, meinte Grayson.
Jane lächelte aufmunternd. „Am besten, du sprichst noch mal mit ihm.“
„Ja, vielleicht.“ Und mit einem unendlich zärtlichen Blick auf sein Söhnchen fügte er hinzu: „Der kleine Satansbraten hat mich zu Tode erschreckt.“
„Ich liebe dich Grayson“, flüsterte sie. „Aber ich lasse dich nie wieder allein, um auf unseren Sohn aufzupassen.“
Drake eilte die breite Treppe in Graysons Haus hinunter und stieß beinahe mit seinem jüngeren Bruder zusammen, der die Treppe hinauf eilte. „Komme ich zu spät?“, fragte Devon atemlos, dessen Umhang vom Nebel feucht glänzte. „Ich habe mich beeilt, so
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