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Ein Band aus Wasser

Ein Band aus Wasser

Titel: Ein Band aus Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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Erde.
    Zunächst schien nichts zu passieren. Ich war enttäuscht. Dann merkte ich plötzlich, wie Energie am Rande meines Bewusstseins aufzüngelte, wie Kohlebriketts, die Feuer fingen.
    » Öffne dich dafür«, murmelte Daedalus mit geschlossenen Augen. » Lass es herein.«
    Ich hatte Angst. Es war schön, ja geradezu herrlich, zu fühlen, wie ich eins mit der Erde wurde. Doch verglichen mit dem Kristall hatte dies hier das Potential, sich zu einem Tsunami auszuwachsen, zu einer fürchterlichen Energie-Flutwelle, die mein Gehirn rösten und mich in die staatliche Nervenheilanstalt bringen würde, wo ich für den Rest meines Lebens Topflappen häkelte.
    » Keine Sorge«, sagte Daedalus. » Du wirst nur ein mikroskopisch kleines Stück der Erde erschließen. Du wirst die Kraft fühlen, aber sie wird dir nicht gefährlich werden.«
    Ich hoffe sehr, dass du recht hast, alter Mann, dachte ich und fragte mich dann, ob er meine Gedanken wohl gespürt hatte. Verdammt. Ich musste vorsichtiger sein.
    » Konzentrier dich«, erklang Daedalus’ Stimme. Ich zwang mich, mich wieder auf den Zauber zu fokussieren. Eine Wand purer Energie stemmte sich gegen mich, ganz anders als zuvor – den Kristall hatte ich gehalten, und seine Energie hatte sich genau dort, vor mir, entfaltet, war in meiner Hand aufgeblüht wie eine Blume. Doch das hier drückte von außen gegen mich.
    » Lass es herein«, sagte Daedalus erneut.
    Ich versuchte, mich zu entspannen, meinen natürlichen Abwehrmechanismus außer Kraft zu setzen. Komm schon, Clio, überleg nicht lange, mach es! Du kannst das. Du musst das durchziehen. Ich entspannte jeden Muskel, atmete kontrolliert und versuchte alle Angst und Besorgnis, die ich verspürte, loszulassen.
    Und plötzlich wurde ich von Licht und Kraft durchflutet.
    Die Energie des Kristalls war in mir explodiert, jetzt wusch eine Welle über mich hinweg, größer, unaufhaltsam.
    » Oh«, hauchte ich, atmete sie ein, spürte, wie sie jede Zelle meines Körpers durchflutete. Es war unbeschreiblich, ein ekstatisches Gefühl der Allmacht und Freude. Als könne ich durch ein Antippen mit dem Finger Autos bewegen oder durch Handauflegen Krebs heilen. Durch die schiere Kraft meiner Gedanken konnte ich Brücken zum Einstürzen bringen. Wie auch bei dem Kristall war das Gefühl mehr als berauschend. Genau aus diesem Grund nahm ich es in Kauf, dass ich mich danach wie der Tod persönlich fühlen würde, nahm es in Kauf, den Kristall zu zerstören und dem Erdboden seine Kraft zu entreißen. Um mich so zu fühlen. Ich wollte laut lachen.
    Der Energiestoß des Kristalls hatte weniger als eine Minute angehalten. Doch dieser hier schien immer weiter zu gehen, während ich die Welt um mich herum betrachtete. Ich erblickte einen Spatz, der sich in einem nahegelegenen Strauch versteckte. Sofort wurde ich zu diesem Spatz, fühlte meinen kleinen Körper mit den leichten Knochen, flink und voller Leben. In nur einem Augenblick wurde die Welt weniger komplex, meine gesamte Existenz bestand nur noch aus Federn, aus Luft, die in mich hinein und wieder aus mir herausströmte, und aus dem Rascheln der Blätter des Busches.
    Als ich mich von dem Spatz losriss, fiel mein Blick auf einen Löwenzahn, der in einem Spalt im gepflasterten Weg wuchs. Ich fühlte ein Aufwallen von Lebenskraft, die sich nach oben richtete, fühlte, wie unsere Wurzeln tief in dem dünnen Erdreich nach Nahrung suchten. Ich begann zu weinen. Ich fühlte mich wie die Göttin. Ich war die Göttin.
    » Ja, und nun …«, sang Daedalus leise.
    » Nein, nein, nein!«, schrie ich und griff ins Leere, griff nach der unsichtbaren, verführerischen Lebenskraft, die langsam aus mir herausfloss, in den Wind entschwand, in all das, was mich umgab. In nur einer Minute war sie fort. Die Farben meiner Welt hatten sich zurückgezogen und nichts als Schwarz und Weiß übrig gelassen. Als ich wieder zu mir kam, merkte ich, dass ich Daedalus’ gerötetes, ekstatisches Gesicht, seine funkelnden Augen anstarrte. Er sah jünger aus, gesünder. Wie lange würde das vorhalten?
    Dann kippte ich zur Seite, schlug auf dem kurzen Gras auf, bevor ich überhaupt merkte, dass ich das Gleichgewicht verloren hatte. Seltsam ausgestreckt lag ich da, unfähig zu begreifen, wie leer ich mich fühlte, wie desolat diese Welt ohne all die frei fließende Kraft war.
    Dieses Gefühl war es also, um dessen willen Melita bis zum Äußersten gegangen war, sogar so weit, ihre Schwester zu töten.
    Ich verstand, warum

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