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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Beisammensein über uns hinweggegangen war, sagte er nur: «Ich hätt halt da sein sollen...». Als wäre dann alles anders gekommen. Den Knaben Dicki lobte er, zu mir aber sagte er nachdenklich: «Ich kann mir nicht helfen, wenn ich dich so anschau, meine ich immer, daß all deine Tropfen und Pillen eine tägliche Dosis von Wiener Schnitzel nicht ersetzen können! — Wie steht es denn übrigens mit der Ernährung, so ganz im allgemeinen? Schlecht? Hast du je daran gedacht, daß wir ein Faß Maggi im Schuppen haben, he? Vergessen, wie?»
    «Aber Leo», sagte Mama und runzelte die Stirn ein klein wenig, «Maggi hat doch kaum Nährwert, und es widersteht einem so bald.»
    «Ha», sagte Leo mit unternehmungslustig funkelnden Augen, «dafür widerstehen andere ihm nicht. Schade, daß ich nur ein paar Tage Zeit habe... Aber einrichten kann ich dir deine Hausiererei wenigstens.»
    Leo schwatzte der Krämerfrau, die von früher her eine Schwäche für ihn hatte, zwei riesige leere Original-Maggiflaschen ab und ermunterte Mama scherzend, kochendes Wasser zu machen und von dem gewürzten Teer so viel darin aufzulösen, als es nur eben aufnehmen wollte. Dann füllten wir es durch einen Trichter, den Dicki als die «große Milchtrompete» bezeichnete, in die Flaschen.
    «Es riecht gut», sagte Mama, «man wird direkt hungrig davon.»
    «Hungrig wirst du nur zuerst davon, danach aber satt», prophezeite Bruder Leo und pumpte unsere Räder auf. Er stellte beide Maggiflaschen in das geborgte Korbstühlchen an der Lenkstange, in dem ich für gewöhnlich Dicki transportierte. Er fuhr so gerne und wurde ganz aufgeregt, wenn wir einmal Seehams Kirchturm aus den Augen verloren. «Jetz sin mer ganz weit weg, gell?» fragte er. «Ui, schau da drüben: ein Mamipferd und ein Babypferd! Wo is’n das Papipferd? Sicher bei die Merrikaner, gell?» Diesmal aber mußte er tränenüberströmt zu Hause bleiben und wurde aufs nächste Mal vertröstet.
    Am ersten, recht abweisend aussehenden Hof kam ein Hund auf uns zu. Ich sprach ihn freundlich in der Landessprache an. «Ja, wo is er denn, der Brave?» sagte ich. Der Hund wedelte. Leo faßte sich kürzer. «Schau, daß d’ weiterkommst, dummes Luder», sagte er. Der Hund wedelte wieder. «Es muß das Maggi sein», sagte ich erstaunt.
    Die ersten drei Male wartete ich bei den Rädern, bis Leo wiederkam.
    «Wieviel?» fragte ich.
    «Ein rundes Brot, zwei Eier», sagte Leo, oder auch: «Einen Waschkorb voll Torf. Ich soll ihn morgen holen. So, jetzt du!»
    Tatsächlich, es war viel leichter als Hamstern. Diesmal hatte ich eine begehrte Ware anzubieten, die mir erlaubte, großzügig zu sein.
    «Du brauchst es net nehmen, Mutter», sagte ich zu einer mißtrauischen alten Frau, die lange an meiner Flasche roch. «Du derfst mer scho in dös Flascherl eins eini to», murmelte sie versöhnlich. Zwischen Pfefferdose und Küchenwecker stand eine kleine Lourdes-Madonna aus Gips. Auf dem Fensterbrett saß die Katze und kniff vergnügt die Augen zu. Im Herd knisterte das brennende Reisig. Die alte Frau kramte im Speisekammerl und schenkte mir eine Dose Gänsefett.
    Den Tauschsatz für meinen Stoff legte ich nicht fest. Manchmal verschenkte ich ihn sogar. Ich verschenkte ihn für das Vergnügen, das Innere eines herrlichen alten Hofes kennenzulernen, den ich ohne das Maggifaß wohl nie betreten hätte — für das Vergnügen, von wackeren Pfarrköchinnen und Wirtinnen zu einer Tasse Kaffee und Kletzenbrot eingeladen zu werden.
    Das geliebte Bayern meiner Kinderzeit schien trotz aller Vorkommnisse der letzten Jahre intakt geblieben zu sein: bei meinen Rundfahrten begegnete ich Zeugnissen bezaubernder Menschlichkeit.
    Da war zum Beispiel meine Freundin Rosa, eine Bauerntochter, die prachtvolle Dörrzwetschgen herzustellen wußte. Soeben hatte sie ein Kind geboren, der Vater war ein Flüchtling. Als das Maggi unter Scherzreden umgefüllt war, stieg ich mit ihr die behäbige breite Treppe ihres väterlichen Hauses hinauf, um das Baby zu besichtigen. In Rosas peinlich sauber aufgeräumtem, riesigem Zimmer lag eine fremde Frau im Bett. Am Fenster in der Sonne standen zwei Körbchen. Nach dem ersten Staunen verglich ich die Babys mit anerkennenden Worten, rief der Wöchnerin Aufmunterndes zu und stieg mit Rosa die Treppe wieder hinunter. Erst drunten am Ende des fliesenbelegten Korridors erklärte sie mir verschämt: «Sie is a ganz a arms Luder. s’Kind hat’s mit einem von hier. I hab’s zu mir g’nomma und bei

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