Ein Baum wächst übers Dach
mir entbinden lassen, weil i da daheim bin und weil’s mir so gut gegangen ist dabei. Hätt mir ja auch schlecht gehen können.»
Die altersdunkle Eichentür mit den Kreidezeichen für die Heiligen Drei Könige bildete einen schönen Hintergrund für meine Freundin Rosa mit den Dörrzwetschgen. Sie ahnte nicht, daß sie mit ein paar Worten viele üble Erfahrungen des Kriegsendes gelöscht hatte.
«Wenn ihr noch Maggi braucht», sagte ich und versuchte, die Rührung aus meiner Stimme zu verbannen, «so wißt ihr ja, wo ich wohne. Rosl, du kannst dann auch gleich noch ein paar Babysachen für deine Wöchnerin holen.»
Beim Heimradeln durch die Wälder, die Leo, Papa und ich einst als pilzsuchende Sommerfrischler durchstreift hatten, sah ich, wie barmherzig die Natur den Schutt der sich auflösenden Armeen allmählich übergraste, vermooste und in sich zurücknahm. Die verlassenen Autoskelette, von Mal zu Mal stärker ausgeschlachtet, wurden immer kleiner, ja selbst die Berge von Stahlhelmen schienen zu verwittern. Eines Tages verschwand sogar die anklagend gen Himmel gerichtete rostige Flakkanone aus der Lichtung neben dem Eichenwäldchen. Ganz hinten in meinem Rippenkorb regte sich die vage Hoffnung, daß das vergangene verfluchte Jahr auch in mir einmal überwachsen und verschwunden sein würde.
Seelisch erfrischt, aber auch materiell bereichert, schoben Leo und ich zu Hause die Räder in den Schuppen.
«Na, wie war’s Geschäft?» fragte Papa, den Pinsel in die Linke nehmend, und neigte sich aus dem Atelierfenster.
«Nicht übel», sagte Leo. «Es ist ja erst der Anfang.»
Im Lauf der nächsten Wochen verwandelte sich der Inhalt des Fasses allmählich in Brot, Eier, Fallobst, Weizen und Mehl, und Leo ließ sich den Kalauer, daß es sich nicht so sehr um Maggi als vielmehr um Magie handele, nicht entgehen. In jenen Tagen kam das erste Liebesgabenpaket aus dem Ausland an. Warm stieg es uns in Herzen, Kehlen und Augen: man hatte uns nicht vergessen! Die größte Wirkung ging von dem Paket aus, als es noch geschlossen zwischen uns auf dem Küchentisch lag. Dann lösten wir Papier und Schnüre, und es zeigte sich, daß sich die Post mit aller Wucht auf die Liebesgaben gesetzt hatte. Der Inhalt, einst zwei Pappbecher mit Orangenmarmelade und eine Tüte mit Kaffeebohnen, bildete ein untrennbares Ganzes. «Kinder», sagte Mama ratlos, «was machen wir nur?»
Die Marmelade, durchsetzt mit Kaffeebohnen, war nicht aufzustreichen. Der Kaffee, durchsetzt mit Marmelade, war nicht mahlbar. Leo und ich fanden die Lösung nahezu gleichzeitig. Wir nahmen einen Mundvoll von dem Gemisch, lutschten es mit Genuß und spuckten die Bohnen in ein Suppensieb. Sie wurden anschließend heiß gespült und in einer trockenen Bratpfanne aufgeröstet. «Na, wißt ihr...», sagte Mama, zwischen Entsetzen und Amüsement schwankend. Dann griff sie zu einem Eßlöffel und machte sich ebenfalls ans Werk.
Auf Seehams Straßen begegnete man jetzt öfter Kindern, die mißtrauisch hinter sich blickend ein CARE-Paket von der Post auf einem Leiterwägelchen nach Hause zogen. So mancher Bauer hatte ausgewanderte Verwandte in Amerika. Zwischen Nachbar und Nachbar flammte Mißgunst auf. «Mei, die ham ja alles, und allweil wieder a Karree-Paclcl», sagte einer vom anderen in giftigem Ton. Plötzlich gab es auch unter den Selbstversorgern graduelle Unterschiede in ihren Beziehungen zur weiten Welt.
Kaum war Leo zwei Tage abgereist, da kam das große Unwetter. Es schien in den Sternen zu stehen, daß er nie zu Hause sein sollte, wenn man ihn am meisten brauchte. Papa war zufällig gerade beim Fischer, um sich nach dem Fang zu erkundigen, und ich auf der Post. Als ich auf dem Heimwege den Schirm gegen die ersten Regentropfen aufspannte, wunderte ich mich über zweierlei: über die unheimliche Dunkelheit des Himmels und über die Vögel, die mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Wege saßen, so daß ich beinahe auf sie trat.
«Glei’ gibt’s jetz was!» rief ich scherzend einer im Garten arbeitenden Seehamerin zu, an der ich vorüberkam. Ich behielt hundertprozentig recht. Als ich die Bachbrücke überquerte, änderte sich plötzlich die Tonart, mit der der Wind gegen meinen Schirm sang, und erhöhte sich um eine gute Quint. Sekunden später schon verloren meine Füße den Halt, der Schirm krempelte sich um und wurde zum Besen und ich rollte in die Wiese. Der Hagel trommelte mir in großen Schloßen auf Kopf und Schultern. In irgendeinem klugen Buch
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