Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
Vom Netzwerk:
eine Tasse schwarzen Kaffee ohne Süßstoff und Milch und bereitete mich darauf vor, in einer Stunde wieder ein Kind zu haben, diesmal ein ganz großes.
    Ja, groß war Dicki geworden. Er erkannte mich sofort und begrüßte mich verlegen, fast höflich. Dann rannte er fort, suchte seine wenigen Spielsachen zusammen, kam wieder und ergriff meine Hand, um sie nicht mehr loszulassen. Anstatt, wie ein Junge seines Alters soll, keinerlei Erinnerung an Zurückliegendes zu haben, fragte er mich als erstes: «Wenn ma daheim ins Wohnzimmer kommt, da riecht’s dann immer so gut, gell?» Und nach einigen Minuten: «Un in dem Stuhl, da sitzt dann die Oma.»
    In unserem Holzgasauto saß er auf meinem Schoß. Wir waren keineswegs allein in dem Vehikel. Wir durften es nur allein bezahlen. Mancherlei Freunderl des Seehamer Chauffeurs hatten plötzlich herausgefunden, daß sie Geschäfte in München wahrzunehmen hatten und dann mit uns zurückkehren konnten. Sie verkürzten die Fahrt durch ihre kernigen Reden und verpesteten die Luft mit ihrem selbstgebauten Tabak. Als wir sie beim Dorfeingang absetzten, waren Dicki und ich halb erstickt.
    «Ich seh das Haus, ich seh’s!» rief Dicki, und hopste und schlug mir mit dem Kopf unters Kinn, so daß ich mich auf die Zunge biß. Im Abenddämmern sah es aus, als wogten die Baumkronen über dem Dach wie Gräser in einer Vase. Ein Lichtschein fiel aus der Tür auf die Veranda, und es war zu erkennen, wie Mama beim Näherkommen des Wagens freudig die Hände überm Kopf zusammenschlug.
    Da die Zeit der Windeln und Gummihöschen vorbei war, hatte ich das Zimmer mit der relativen Ofenwärme an Mama zurückgegeben und das Hauptquartier für Mutter und Sohn im Balkonzimmer aufgeschlagen. Der eingebaute Schrank, der einst die paar Sommerkleidchen und den einen Badeanzug eines Logierbesuches hatte aufnehmen sollen, mußte Dickis und meinen Kram fassen und dazu noch in die Südwestecke umziehen. Holz auf Holz, das ging ja leicht. Er war gleich wieder eingebaut. So gab es Platz für ein zweites Bett, und die Balkontür ging trotzdem noch auf.
    Schon morgens vor sieben Uhr erteilte Dicki mir Unterricht in Liedern und Versen, die er im Kinderheim gelernt hatte und die ich zum Teil noch nicht kannte. Wir konnten unbeschadet der Ruhe der Eltern in ein Duett ausbrechen, denn Papa fing an, schlechter zu hören, und die anderen Räume waren so fern, wie sie es in einem kleinen Holzhaus eben sein können.
    Von Michael kamen jetzt öfters Karten, ja sogar manchmal Briefe, alle in Druckbuchstaben und alle der Überzeugung Ausdruck gebend, daß er in spätestens vierzehn Tagen entlassen würde. Zunächst glaubte ich es, wie ich im Kriege an die Urlaubsmeldungen geglaubt hatte. Ich bürstete mein Haar und harkte sicherheitshalber die Kieswege im Garten. Nach der fünften, sechsten Enttäuschung glaubte ich keinem Brief mehr. Schon schwerer war es, den Hoffnungsmachern aus Fleisch und Blut zu widerstehen. Wie die Schwalbe, die noch keinen Sommer macht, kam erst der eine, dann der andere mir gänzlich Unbekannte, brachte Michaels Grüße und versicherte, dieser werde nun bald selber folgen. Anfang Juli sah ich einen älteren, würdig gekleideten Herrn zögernd mehrmals an der Hecke entlanggehen und wieder kehrtmachen. Mir wurde so eiskalt ums Herz, als hätte ein Zahnarzt gesagt: Nun seien Sie einmal recht tapfer. Der da drüben, der sich nicht hereintraute, war zweifellos ein Geistlicher, der mir beibringen kam, daß Michael krank, tot oder verschleppt sei, und der sich jetzt die Worte zurechtlegte. Ich hatte zuviel darüber gehört, wie schießfreudig es in den Lagern gelegentlich zuging.
    Der freundliche Herr von untadeligen Manieren, ein Oberst im Ruhestand, konnte gar nicht begreifen, warum ich ihn bleich und zitternd empfing.
    «Ich komme», sprach er, «aus dem Lager, in dem Ihr Mann sich befindet, gnädige Frau. Es geht ihm gut, er läßt herzlich grüßen und sagen...»
    «...daß er in spätestens vierzehn Tagen entlassen wird», vervollständigte ich und brach in meiner Erleichterung bei der oft gehörten Phrase in ein hysterisches Gelächter aus. «Treten Sie ein, Herr Oberst, Sie sind der zwölfte in den letzten paar Monaten, der ihn ankündigt. Darf ich Ihnen ein Schälchen reife Johannisbeeren ohne Zucker anbieten?»
    Im Juli kam endlich auch Leo. Uns war zumute, als hätten wir uns jahrzehntelang nicht gesehen. Zu der ganzen Lawine der Schwierigkeiten und des Kummers, die seit unserem letzten

Weitere Kostenlose Bücher