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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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und niedrig. Was für ein ungeheurer Baum war sie doch geworden, ohne daß es mir aufgefallen war! Der Schnee, der den Winter über ums Haus gelegen hatte, war zusammengesackt und machte deutlich, daß Papa, ungeachtet Mamas Verbot, die Asche der Öfen hinter der Küchentür einfach ins Freie gekippt hatte. Der See war schon aufgebrochen, und auch heuer, unter der Militärregierung, trieb der Westwind die Eisschollen zusammen und zerscherbelte sie auf den Ufersteinen. Mama hatte mich, der relativen Wärme des Ofenrohres wegen, in das sogenannte Kinderzimmer umquartiert, und in meinem Rekonvaleszentenbett lagen so viele Wärmeflaschen, daß ich kaum dazwischen Platz hatte.
    Als ich wieder ausging, stützte ich mich auf einen Stock, und nach einem Blick in den Spiegel war ich erstaunt, mein Haar nicht ergraut zu finden. Papa schmunzelte, gab mir einen ermunternden Puff und zitierte den Rosenkavalier: «Da geht sie hin, die alte Fürstin Resi, die alte Marschallin...»
    Ich ging langsam und oft stehenbleibend hinüber zur Nachbarin, die einen Tisch unter die Obstbäume in den Windschutz des Hauses gestellt hatte und Wäsche wusch. Sie legte die Seife aus der Hand und wandte sich mir zu. Güte und Verlegenheit standen in ihrem faltigen Gesicht. «Du brauchst mer gar nix sag’n, i woaß», sagte sie. Dann sprachen wir vom Wetter und wie kühl es morgens noch sei. Die Bienen flögen zwar schon aus, viele aber erstarrten und kämen nicht mehr zum Stock zurück. «Des Rechte is’s no net», sagte die Nachbarin. Das fand ich auch und ging fröstelnd heim in mein Bett. Dort las ich halbe Tage lang. Keine guten Bücher beileibe, die mich womöglich an die Gegenwart und Wirklichkeit erinnert hätten: nein, stockig riechende Prachtbände aus der Bibliothek einiger Seehamer Mitbürger, das jüngste Werk war etwa 1880 geschrieben worden. Die Heldinnen, deren Alabasterbusen wogte, ohne daß er recht eigentlich Grund dazu hatte, amüsierten mich und besserten meine Stimmung. Noch mehr besserte eine Postkarte meine Stimmung — eine Postkarte von ungewohnt kleinem Format. Sie enthielt Nummern und Ziffern und in der Mitte einen zwar in Druckbuchstaben, aber unverkennbar von Michaels Hand geschriebenen Satz, wonach es ihm gut gehe und er Post an obige Adresse erbitte. Von dieser Postkarte an dehnte ich meine Trainings-Spaziergänge täglich um zwanzig Schritte weiter aus. Als ich wieder eine halbe Stunde hintereinander marschieren konnte ohne stehenzubleiben und tief zu atmen, bemerkte ich ganz nebenbei, daß es Mai geworden war. Der Garten schlug buschig-grün über dem Hause zusammen. Es schienen sich viel mehr Blätter entfaltet zu haben als voriges Jahr um die gleiche Zeit. In der lauschigen Hecke, die teilweise fast einen Meter breit geworden war, und zwar sowohl auf der gedüngten wie auf der ungedüngten Strecke, war ein solches Vogelgetöse, daß man einen Band Brehm zur Artenbestimmung gebraucht hätte. Von diesem dichten, grünen Bande zusammengehalten, schwebte das Grundstück über den weiten Wiesen wie ein Bukett. Die Kronen der Bäume wuchsen schon ineinander. Hatten wir denn seinerzeit wirklich so viele Bäume angepflanzt?
    Als ich mir Zutrauen durfte, längere Zeit zu gehen und sogar einen Koffer zu tragen, brach ich auf, um mir meinen Sohn wiederzuholen. Die Heimfahrt würde ab München mit dem schon historisch zu nennenden Holzvergaser vor sich gehen.
    In dieser Reise war nebst anderen Emotionen auch das schmerzliche Wiedersehen mit München eingebaut. Fassungslos stand ich am Nebenausgang des Hauptbahnhofs und schaute stadteinwärts. War es denn möglich, daß man von hier die Frauentürme sah? Das Licht fiel ganz falsch in die ehemalige Ladenstraße ein, die jetzt von häßlichen einstöckigen Bretterbuden gesäumt wurde, als wären wir am Klondike. Trambahnen und Unterführungen trugen Aufschriften in englischer Sprache, überall warnten Schilder die Fahrer von Jeeps und Trucks, daß der Tod eine dauerhafte Angelegenheit sei. Und wo waren die echten Münchner? Was da an Leuten zwischen Stachus und Bahnhof abgeschabte Pappkoffer hin und her trug, sah so gar nicht münchnerisch aus. Ich hatte ursprünglich vorgehabt, einmal durch die Elisabethstraße zu gehen, nun aber war es kaum mehr vorstellbar, daß wir dort jemals in einer hochherrschaftlichen Wohnung mit Stuckdecken gewohnt haben sollten.
    Ich setzte mich lieber in den Wartesaal wie alle jene, denen München nicht mehr bedeutete als eine Umsteigestation, trank

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