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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Norden die Wanne mit heißem Wasser, ein gewöhnlicher Hahn speiste sie von Süden mit kaltem. Anders war es nicht zu machen. Der Wanne gegenüber hatte noch ein Wäscheschrank Platz. Zunächst räumte Mama ihre Sachen dorthin ein, weil sie in das große neue Zimmer zog. Es war nicht die einzige Veränderung.
    Das Mädchen Emma hatte uns verlassen, und an ihrer Statt waltete eine ältere Person, Anna der Igel genannt. Sie war krumm wie eine Wurzel im Wald und sprach ständig vor sich hin, mit dem Wetter oder mit ihrem Hühnerauge. Zum zischenden Wasser auf dem Herd sagte sie: «Jaja, komm ja gleich!» und die manchmal noch zappelnden Fische ermahnte sie beim Schuppen drohend: «No amal schwänzelst — no amal!»
    Ja, Fische gab es viele, genauso viele wie im vorigen Jahr, manchmal nur Miezengröße, oft aber die Größe, die gebraten so gut zu Kartoffelsalat paßt. Gegen Abend kam Papa geruhsamen Schrittes barfuß vom See herauf, die Angeln in der Linken, in der Rechten ein Eimerchen, aus dem silberne Schwänze guckten.
    «Schön war’s», sagte er, und die Fältchen um seine Augen standen hell im sonnenverbrannten Gesicht. «Bis fünf Uhr kein Biß. Dann gleich sechse. Danach kam Ostwind auf, da bin ich heimgerudert.»
    Ich erhob mich vom Jäten der Ligusterhecke, der wir für ihr braves Wachsen nun auch etwas zuliebe tun wollten, beide Fäuste ins schmerzende Kreuz gestemmt. Mama saß auf der Veranda mit einem Korb Flickwäsche und sah über ihre Brille hinweg.
    «Sascha, um Himmels willen, schon wieder Fische!» rief sie. «Wir hatten doch erst gestern und vorgestern welche!»
    Miezi dagegen kam wie von ungefähr hinterm Haus hervor, umstrich zärtlich Papas bloße Beine und schnurrte schon auf Vorschuß.
    Leo, der während seiner Schulzeit augenscheinlich nützlichere Dinge gelernt hatte als ich, mähte das viel zu hohe Gras des Gartens, das stellenweise von Ulf und stellenweise von uns niedergetreten war, und fluchte leise vor sich hin, wenn er mit der Spitze der geliehenen Sense in einen Maulwurfshügel fuhr. Die Maulwürfe konnten sich nicht daran gewöhnen, daß inmitten all der Wiesen nun plötzlich ein Stück nicht mehr Wiese sein sollte. Die Schnecken hatte ich im Verdacht, daß sie sich im Schatten der jungen Hecke bis zur Abendkühle ausschliefen, um dann, erfrischt und gestärkt, alles aufzufressen, was wir anbauten.
    Außerdem gedieh das, was anderswo als Rasen bezeichnet wird, bei uns schon deswegen nicht, weil Ulf in Reichweite seiner Leine seine Geschäfte darauf verteilte. Die Leine aber mußte sein, und sie war mit einem großen Eisenring am Hundehaus befestigt. Wildernde Hunde wurden, sofern der Förster sie erwischte, auch in Seeham erschossen. Leider hatten wir einige Male beobachtet, wie unser Ulf in Richtung auf das Wäldchen enteilte, um sich dort ein Maulvoll Rehschlegel zu holen, und wenn Mama auch immer Gutes von Ulf redete und alles zum besten kehrte, so war sie ihrer Sache doch nicht ganz sicher.
    Während des Einräumens hatte ich mir eisern vorgenommen, wenn dies vorüber sei, kein Glied mehr zu rühren und nur im Liegestuhl zu liegen. Und nun wußte ich nicht, wo ich zuerst hin sollte. Nicht nur, daß ich aus purer Lust und Wiedersehensfreude in die Dörfer der Umgebung radelte, ich fing auch an, die Karte der Umgebung, die noch immer neben der Eckbank im Wohnzimmer lehnte, strategisch auszuwerten. Gestützt auf die Erfahrungen der Eltern, gelang es mir, die Wälder in Pilzplätze, Beerenplätze, Tannenzapfenplätze und bloße Aussichtsplätze aufzuteilen.
    Jede Beere verlangt ihre eigene Technik. Nur ein Anfänger nimmt sein Pflückgefäß in die eine Hand und versucht mit der anderen, des Segens Herr zu werden. Ich lernte bald, daß das zum Beispiel bei Himbeeren zu nichts führt. Ich band mir einen alten, steifen Ledergürtel um die Taille, an dem das Eimerchen hing, nahm die Ranken vorsichtig mit der Linken auf und molk mit der Rechten systematisch Stück für Stück ab. In den Himbeerdickichten war es bestimmt im ganzen Voralpengebiet am heißesten. Kein Windhauch kam jemals dorthin, und im hohen, dürren Waldgras wurden die Beeren am saftigsten und größten und hatten eine schöne Fingerhutform. Diejenigen Himbeeren, die man von weitem sieht, sind meist trockene, degenerierte Früchtchen. Übrigens waren es gar nicht die Himbeeren, die einem bis zu den Shorts hinauf die Beine so jämmerlich zerkratzten, sondern die unsichtbar darunter lauernden Brombeerranken. Wenn die

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