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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Dinger lang genug geworden waren, wurzelten sie wieder im Boden fest und bildeten dann eine Art Fangeisen, in denen man prächtig stolpern und die Ausbeute mehrstündiger harter Arbeit verschütten konnte.
    Erdbeeren wiederum hatten ganz andere Gesetze. Bei ihnen tat man gut daran, gleich am Boden zu bleiben und dort weiterzukriechen. Setzte man sich hin, so war der Aktionsradius zu klein. Wenn ich dann nach schier endloser Zeit in mein Eimerchen blickte, war so wenig darin, daß ich lieber gleich alles in die hohle Hand schüttete und aufaß. Zu den besten Ergebnissen kam ich in der Hocke und beim Knien. Nirgends habe ich so unermüdlich bestimmte Ideenverbindungen wiedergekäut wie beim Erdbeerensuchen. Es muß an der einseitigen Durchblutung des hängenden Kopfes hegen, den man übrigens leicht angehoben tragen muß, denn wie soll man sonst die nächste Erdbeere schon sehen, während man die vorige pflückt?
    Mama sah es sehr ungern, wenn ich allein in die Beeren fuhr; für sie waren die Wälder voller Lustmörder und dergleichen. Aber anders als allein war es nicht zu machen. Bruder Leo lehnte rundweg ab: er sei zu faul. Kleinere Kinder konnte man zu dem Sport nicht mitnehmen. Sie hatten eine Gabe, die Beeren zu zerdrücken, so daß ihnen noch die nächste und übernächste zwischen den Fingern hängenblieb, und man mußte stets damit rechnen, daß sie sich mit einem Jubelruf gerade dort auf ihr frischgewaschenes Höschen niedersetzten, wo die Beeren am dichtesten standen. Hatten sie dann wirklich einmal den Boden ihres Topfes bedeckt, so schütteten sie den Inhalt aufschreiend über sich, weil eine Bremse sie gestochen hatte.
    Den Hund Ulf nahm ich nur einmal mit; er riß mich auf dem Weg in den Wald beinahe vom Rad und war nachher samt dem Stämmchen, an das ich ihn gebunden hatte, durchgegangen.
    Mit den Gästen war es auch so eine Sache. Junge Männer konnte man nicht mitnehmen, denn sie benutzten die stille Waldeinsamkeit dazu, einen zu küssen oder sonstwie albern zu werden. Alte Männer mitzunehmen hatte auch keinen Wert. Sie sagten nach etwa zehn Minuten: «Weißt du, das hier ist mir zu mühsam. Ich radle schon ganz langsam voraus nach Hause.»
    So blieb ich denn meist allein bei den ergiebigsten Stellen, und nach einer Weile merkte ich, daß es gar nicht die zu füllenden Eimerchen waren, die mich dort hingezogen hatten. Die Beeren waren gleichsam nur der Anlaß, lange und geduldig an einer Stelle der Natur zu verweilen, die man sonst rasch wieder verlassen hätte, weil Mücken da waren, oder weil man glaubte, sie nun schon zu kennen. Der Wald aber erschloß sich erst, wenn man verweilte, wenn die Sonne weiterwanderte und den Anblick der Kieferngruppe veränderte, sooft man aufblickte. Der warme Nadelboden roch so gut, die Wipfel hoch droben knarrten und wetzten, die Tauben gurrten, die man fast nie fliegen sah, und von fernher drang der Ton bimmelnder Kirchlein oder Kuhherden. Wenn ich mich nach stummem, eifrigem Pflücken ächzend aufrichtete und eine Bremse totpatschte, kam es vor, daß ein Rehbock erschreckt bellte und sich dann samt seinen Damen nicht allzu hastig davonmachte. Ich blieb länger als ich ursprünglich vorgehabt hatte, und hätte gern ein Feld- oder vielmehr Waldtelefon gehabt, um Mama Bescheid zu sagen, daß mir noch immer nichts passiert sei. Doch solche mobile Nachrichtenmittel waren uns damals kein Begriff. Die Zeit schien so friedlich, obwohl erst neulich jemand im Radio eine Rede gehalten hatte, daß Deutschland jetzt die Wehrhoheit wieder hätte. Wir hatten die Rede abgestellt und weiter Kakao getrunken und Blaubeerkuchen gegessen.
    Zu den tiefen Freuden im Walde kamen manchmal noch Überraschungen besonderer Art: die Begegnungen mit alten Beerenweiblein. Sie knieten auf ihrer Schürze und waren stumm und eifrig. Sie mit einem munteren Grüßgott oder einer Bemerkung über das Wetter zu überfallen, wäre falsch gewesen. Sie wollten sich erst auf ihre verstohlene Art ein Bild von mir machen, ehe sie sich in ein Gespräch einließen. Nach etwa einer Viertelstunde emsigen Nebeneinanderpflückens kam es zur ersten Annäherung: «Sparsam gehns her heuer, sparsam.» «Bist du vo Egling?» «Soso, vo Seeham bist.» Pause. «Bist du grad in der Sommerfrischn da?» «Soso, dös Hoizheisl g’hört euch. — Soso. Dös kenn i scho.» Es blieb mir stets ein Rätsel, wie diese zu Fuß wandernden Wesen über Neubauten im fernen Seeham unterrichtet sein konnten. Nun kam es unter Umständen

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