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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Umsehen solle. Mama meinte, der Motor sei wirklich eine große Verbesserung, und ob wir jetzt nicht den Handschwengel abnehmen lassen könnten. Der sei doch nicht mehr nötig und es sähe dann viel schöner aus. Nein, der bliebe dran. «Ja, wozu denn?» fragte Mama. «Man kann nie wissen», sagte Bruder Leo. Dann packte er seine Koffer, steckte ein kleines serbisches Wörterbuch in die äußere Paletottasche und reiste ab.
    Doch auch wir blieben nicht bis Weihnachten. Als ich anfing, den Kachelofen zweimal täglich zu heizen, als mir der in der Serviette gekochte Kloß auf Anhieb gelang und ich die Rosenbeete vor dem Haus mit dicken Tannenzweigen bedeckt hatte, wurde durch einige ankommende Briefe klar, daß die Eltern den Winter in Brüssel verbringen würden. So sehr ich es eben noch bedauert hatte, diese Stadt nicht kennenzulernen, diesmal ließen Brüssels Reize mich kühl. Ich hatte eine andere Hauptstadt in petto: Berlin. Als Startpunkt für eine berufliche Laufbahn schien Berlin am geeignetsten wegen der vielen Freunde und Verwandten, die sich meiner dort mit Rat und Tat annehmen würden. Papa stellte mir frei, dort die Dolmetscherschule, die Berlitz-School, die Rackow-Schule oder das Lette-Haus zu besuchen und mir die Stadt zu erobern — Mama, die wohl gelegentlich bemerkte, wohin mir das Herz fiel, gab ihrer Stimme in allen Dingen, die Berlin betrafen, einen optimistischen Ton, der etwa drei Töne höher lag als ihre gewöhnliche Sprechstimme. Es klang fast wie: «Cherubino, auf zum Siege, auf zu hohem Waffenruhm...» Für die schlaflosen Stunden zwischen drei und fünf Uhr früh, die sie auf den Mäuselärm schob, blieben ihr Sorgen genug um meine Gesundheit und Tugend im Berliner Klima, von denen sie nicht sprach. Um so ausführlicher sprach sie vom Wert regelmäßiger Spaziergänge, vom Wert guter Manieren und selbstbewußten Auftretens. Sie schien der Meinung, daß ich, wenn ich mir den Scheitel immer bis ganz hinten durchzog und mit allen Leuten freundlich war, die Reichshauptstadt bald genug zu meinen Füßen haben würde. Nur das alte, karierte Schulkleid, das noch aus der Elisabethstraße stammte, das solle ich in Seeham lassen, das sei nicht mehr gut genug, sagte sie. Um das Haus machte sie sich keine Sorgen. Es fand sich eine Dame, die eine mietfreie Wohnung suchte und als Gegenleistung versprach, Miezi Milch zu geben, Ulf spazierenzuführen und beide zu hüten wie ihren Augapfel. Erst viel später erwies sich, daß sie Ulf bei Kälte auf der Veranda anband und zum Kaffeeklatsch ging, so daß sein Heulen im halben Dorf zu hören war, daß Miezi ihr bald entlief und nie wieder auftauchte, und daß sie einen schweren Gegenstand, mit Wahrscheinlichkeit ein Beil, von oben in die porzellanene Klosettschüssel fallen ließ und behauptete, die sei schon immer kaputt gewesen.
    Die letzten drei Tage genossen wir stillvergnügt. Papa zwickte mich, im Hinblick auf meine nun bald einsetzende verfrühte Mündigkeit, schon vor dem Kaffee-Eingießen ermunternd in den Arm, ja manchmal sogar während des Eingießens, was die Tasse in Gefahr brachte. Der Garten sah still und stumm aus, als atmeten die Pflanzen nur noch leicht. Die Kronen der Bäumchen und Johannisbeerbüsche zeigten schon klar und deutlich die Konstruktionszeichnungen ihrer Äste, ohne daß viel Laub unten lag. Am Morgen unserer Abreise war das Gras im Schatten der Hecke blaugrau bereift.
    In der Stadt war dann alles schon kahl, ja das braune Laub schon vom städtischen Reinigungsdienst hinweggeräumt. Bis München waren die Eltern und ich gemeinsam gereist. Wieder sprach keiner es aus, wie absurd es doch eigentlich sei, sich jetzt in die Welt zu zerstreuen, anstatt einfach die Trambahn Nummer 17 zu nehmen und in die Elisabethstraße heimzukehren. Da wir im Abschiednehmen alle keine Helden waren, verbrachten wir die letzten schmerzlichen fünf Minuten im Hauptbahnhof damit, uns Witze zu erzählen. Die Pointe fiel just in dem Augenblick, als der Zug der Eltern aus der Halle glitt.
    Ich winkte, und als ich den Arm wieder sinken ließ, war ich erwachsen. Vielleicht behielt mein geheimes Vorgefühl recht, vielleicht führte der Weg in die Villa an der Riviera tatsächlich über Berlin. Nun, jedenfalls war ich jetzt selbständig und auf eigenen Füßen. Niemand und nichts hinderte mich, mir jetzt zum Beispiel endlich Vicky Baums «stud. ehem. Helene Willfuer» zu kaufen, ein Buch, das irgendwie unanständig sein sollte und das ich bisher nicht hatte

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