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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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und Birnen hell aus dem müden grünen Laub.
    Anna der Igel war fort. Es kam eine Bauerntochter, die mit mehr Wucht als nötig die Teppiche klopfte und derartige Mengen Brotsuppe kochte, daß der ganze Speiseschrank damit vollstand.
    Papa hatte viele schöne Bilder gemalt, duftige Porträts der Landschaft um den See, der braunen, stillen Torfmoore mit den Birken, die ihn an Rußland erinnerten, und den Blick auf die Berge. Ihm allerdings gefiel ein Bild am besten, das mißlungen war und das er abgekratzt hatte. Die geheimnisvollen bläulichen Umrisse, die nun übriggeblieben waren, schienen ihm so interessant, daß er den Satz aufstellte: «Wißt ihr, man sollte überhaupt nicht mehr malen, sondern nur noch kratzen!»
    Es war zunächst noch nicht von unserer Abreise zum Winter die Rede. Ich schlug einmal beim Tee, während ich den Messinghahn des Samowars bediente, Mailand vor, weil ich mir von der Mailänder Scala die besten Opern versprach, aber niemand ging auf meinen Vorschlag ein. Irgend etwas schien mir hier nicht zu stimmen, und Bruder Leo verlor denn auch keine Zeit, um mich ins Bild zu setzen. Er wählte dazu den Augenblick, in dem er Wasser ins Reservoir hinaufpumpte und ich auf dem Küchenhocker stand und nach einem Glas Preiselbeeren suchte, das unbedingt noch irgendwo im obersten Fach des Schrankes stehen mußte. Ich konnte kaum stehen, denn die Miezi umstrich zärtlich meine Beine, in der Meinung, ich suche nach Hackfleisch für sie. Aber ich war wegen der Mäusevorkommnisse etwas verstimmt und beachtete sie nicht. Das Glas Preiselbeeren wollte sich nicht finden lassen.
    «Wenn das neue Mädchen kommt, muß der ganze Speiseschrank mal herausgeräumt und saubergemacht werden», sagte ich und äugte in eine Tüte Pfefferminztee.
    «Es kommt kein neues Mädchen», sagte Bruder Leo und bewegte sacht den Pumpenschwengel hin und her. Das Bleigewicht an der Küchenwand senkte sich unmerklich. «Das bißchen, das hier zu tun ist, kannst du ja machen. Du bist ja jetzt völlig ausgewachsen. Für ein Mädchen reicht das Geld nicht mehr, verstehst du. Nun reg dich mal nicht auf, sonst merkt es die Mama, und du weißt genau, daß sie viel herzkränker ist, als sie tut. Ihr bleibt wahrscheinlich sowieso so lange wie möglich hier, und wenn die Eltern dann wieder ins Ausland fahren, dann bleib in Deutschland und schau dich um, daß du hier irgendwo was lernst, damit du was verdienen kannst. Oder hast du gedacht, daß du dein Leben lang Prinzessin auf der Erbse spielen kannst?» Ich stieg vom Hocker und setzte mich bequem hin. Mir war schwindlig, viel schwindliger als damals, als Mama mir eröffnete, daß wir unsere Münchner Wohnung aufgeben müßten. Verdienen, ich? Eine Stellung annehmen? Wieso hatte mir niemand etwas davon gesagt, daß es uns nicht gut ging? Dann hätte ich mir doch die goldenen Abendsandalen nicht mehr gekauft! Immerhin war es eine große Erleichterung, daß Bruder Leo es war, der mich so sachlich und kurzerhand aufklärte. Mama verstand sich schlecht auf Unverbrämtes, und Papa...? Papa haßte Aussprachen, Entscheidungen, Resümees und dergleichen und hätte mir höchstens ein Gedicht von Morgenstern zitiert.
    Ich saß völlig entspannt und hatte beide Arme auf dem Schoß liegen. Miezi nahm die Gelegenheit wahr, auf mir herumzusteigen und mich schnurrend mit ihren Barthaaren ins Gesicht zu stechen. Bruder Leo sah sich nicht um und pumpte stetig und gelassen weiter. Man hörte es kaum, während es bei Anna dem Igel immer so geklungen hatte, als wolle sie den Schwengel abreißen.
    Es hatte keinen Sinn, es zu leugnen: Genau das, was Leo so rüde als Prinzessin auf der Erbse bezeichnet hatte, war die Rolle, die mir auf den Leib geschnitten schien. Ich sah meine Zukunft plötzlich in so neuem Licht, daß die Küche sich vor meinen Augen zu verändern schien, als hätte ich sie noch nie gesehen. Es war ein Unterschied, ob man sich in Fortsetzung einer geheiligten Familientradition ein wenig ums Kochen und Backen kümmerte oder ob man alles ganz allein machen mußte. «Das Abspülen auch?» fragte ich kläglich.
    Leo ruckte prüfend am Bleigewicht und zog ein wenig den Kopf ein, um unter der Treppe hervorzukommen. «Ja, freilich, das Abspülen auch. Nun sitz nicht so verdattert da», sagte er mit einem tröstenden Puff. «Was du noch nicht kannst, lernst du ja sofort. Ich habe eine elektrische Pumpe für euch bestellt, damit das Wassersparen aufhört. In zwei Wochen muß ich wieder auf den Balkan,

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