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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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gutes Kind», sagte er, «nach dem, was Sie mir da aufzählen, wird es höchste Zeit, daß Sie aufhören zu lernen und anfangen zu arbeiten. Kommen Sie mal am Montagnachmittag gegen fünf in mein Büro. Ich spreche inzwischen mit der Personalabteilung über Sie.»
    Mama hatte immer gefunden, daß das Auflegen von Rouge bei einem so jungen Mädchen etwas völlig Unmögliches sei. Ebenso unmöglich aber war meine angeborene grünliche Blässe. Sie war mit ein Grund, warum man mich nur auf Aquarellen wiedergeben konnte. Nun aber ging es um eine Existenzgrundlage und nicht um Wasserfarben oder Ölfarben. Keine Firma hätte es verantwortet, mich anzustellen, sie mußte ja damit rechnen, daß ich binnen Jahresfrist in eine Lungenheilstätte übersiedeln würde. Ich kaufte daher bei der Friseuse an der Ecke, die mir beim Aussuchen des passenden Tones half, ein Döschen Rouge, entnahm meinem Koffer einen Fuchspelz, um meine zitternden Knie damit zu bedecken, wenn ich vor dem Chef saß, und stülpte einen Hut auf, den ich für schick hielt. Ich sah darin aus wie die heilige Genoveva, wenn sie versucht, wie eine Barfrau zu wirken. Dann fuhr ich wieder einmal eine halbe Stunde lang Untergrundbahn.
    Ich war sehr aufgeregt in den langen Gängen des Neben- oder Seitenministeriums, erschrak vor jedem Büroboten und betrat den imponierenden Raum des Personalchefs mit dem Gefühl, gekochte Nudeln in beiden Jackettaschen zu haben. Wider Erwarten bekam ich trotzdem die Stellung, wenn auch nur auf Probe, und trat sie am übernächsten Tage bereits an.
    Zuerst hatte man keinen richtigen Platz für mich, und ich saß auf einem zu niedrigen Stuhl, auf den das Telefonbuch gelegt wurde, um eine annehmbare Sitzhöhe zu erhalten. Der Bürobetrieb, zugleich einschüchternd und unheimlich komisch, erinnerte ein bißchen an eine neue Schule: man nahm alles zu wichtig, schwärmte für die Lehrer und platzte vor Stolz, dazuzugehören. Ich füllte Klammern in die Heftmaschine, lernte Telefonnummern auswendig, las die Akten aufmerksam durch, anstatt sie schlicht und sachlich nach dem Datum abzulegen, verwickelte mich in die Schnüre zweier Telefonapparate, die ich gleichzeitig zu bedienen versuchte, weil sie gerade beide läuteten, und wagte ein Butterbrot nicht zu essen, weil ich den Stempel «Streng vertraulich!» auf dem Einwickelpapier zu sehen meinte. Dem Panzerschrank, der nichts wahrhaft Bedeutendes enthielt, näherte ich mich mit achtungsvollem Schweigen, vermutete in jedem Mann, der mir auf dem Nachhauseweg nachstieg, einen Agenten, der mir Staatsgeheimnisse zu entreißen trachtete, und schrieb noch im Traum die Wendungen meines neuen Bürodeutschs: «... und bitten wir Sie, bei den Firmen nachzufassen, ob die Tendenz vorhanden ist...» In nahezu allem, womit ich mich nun täglich beschäftigte, schien mir das Schicksal des Reiches oder zumindest des deutschen Außenhandels beschlossen, und in den Sitzungssälen und Vorhallen meines Amtes sah das verbissene Gesicht des Mannes mit dem häßlichen Schnurrbärtchen von der Wand.
    Aus Brüssel gratulierte mir Mama begeistert und mahnte mich, mir täglich vor Augen zu halten, welches Glück ich gehabt hätte. Eine kurze Klippe gab es noch: mein holländischer Paß. Ängstlich saß ich auf der Stuhlkante, als mich das Personalbüro noch einmal kommen ließ und sich von mir die lange Geschichte von Urgroßpapa, Napoleon und dem holländischen Wilddieb erzählen ließ. Ich brauchte noch ein besonderes Arbeitspapier, um dessentwillen ich nach Seeham an unseren guten Gemeindeschreiber telegrafieren mußte, aber ich durfte bleiben — nicht mehr auf Probe, sondern im Ernst: Sekretärin unter Sekretärinnen.
    Diese waren übrigens reizend zu mir, teils weil und teils obwohl ich die Jüngste war. Sie zeigten mir, wie man alles richtig macht, und gleich danach, wie man das repariert, was man falsch gemacht hat, welche Leute auf den Korridoren man mit «Heil Hitler!» grüßen mußte und bei welchen «Guten Morgen» genügte, und wann man in Ruhe Privatgespräche per Telefon führen konnte, ohne übel aufzufallen.
    Wenn der Ruf erscholl: «Fräulein Soundso, ich möchte bitte etwas diktieren», sprangen sie blitzartig auf, ergriffen den Stenoblock und erröteten tief, einige aus Schreck, andere aus Schüchternheit und die meisten aus Liebe. Von dieser Seuche, dem sogenannten Chefkomplex, wurde ich sofort angesteckt.
    Warum nur hatte ich mir meine Vorgesetzten als Billardköpfe mit abstehenden Ohren

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