Ein Baum wächst übers Dach
bestanden gar nicht aus Fleischbrühe, sondern aus Wasser mit etwas Maggi und recht viel Schnittlauch. Ihre Knödel waren prachtvoll und enthielten eine Menge Eier. Das Geheimnis ihres Rezepts lag somit im Hühnerstall. Das hätte ich zu Hause nicht erzählen dürfen, denn Bruder Leo fand sofort, eine Geflügelfarm sei spielend leicht zwischen Schuppen und Anbau unterzubringen. Gottlob standen mir die Eltern bei. Mama und Papa fanden wie aus einem Munde, daß das Huhn ihnen nächst der malaysischen Puffotter das unsympathischste Tier sei, es stänke, sei laut und geistig zurückgeblieben. In meiner Freude und Erleichterung fuhr ich weit über Land und kaufte Eier, wo ich nur konnte.
In diesem Jahr trugen die Johannisbeerbüsche zum ersten Male reichlich, und ich hatte mich dort in einer weiteren Pflücktechnik zu üben. Ich lieh mir den Melkschemel von der Nachbarin, dessen Hinterbeine jedoch sofort im Boden versanken. Er warf mich ab wie ein bockiger Esel, und von da an kniete ich. Das ging ganz gut, solange nicht zu viele Ameisen unter der Kniescheibe zerdrückt wurden. Mama sollte ihres Herzens wegen nicht so lange in der Sonne bleiben, die Männer pflückten zu viele Stengelchen, Blättchen und Hölzchen mit. Ulf blieb bei mir und assistierte mir dadurch, daß er seine Schnauze ganz tief in die Maulwurfshügel um die Johannisbeerbüsche steckte und dumpf hineinpustete.
Eines Tages kam Leo die Treppe herunter und sagte freudig grinsend zu mir: «Sag’s der Mama nicht, aber ich weiß jetzt, warum die Gäste heuer immer nur so kurz bleiben: Weil du Giftweizen gestreut hast und sich die Mäuse in ihrer Agonie immer genau in den Blindboden über dem Gästebett zurückziehen, um dort das Zeitliche zu segnen. Und dazu diese Hitze!»
Ich eilte mit ihm an den Ort des Schreckens, stellte mich auf die Zehenspitzen und hielt die Nase an die Dachschräge, um den Ort möglichst genau zu bestimmen. Zu machen war nichts. Wir konnten die Bretterverschalung nicht aufreißen, höchstens die Balkontür ins Freie.
«Es sind mindestens vier verschiedene, Vater Maus, Mutter Maus und zwei Kinder», sagte Leo, und ich opferte insgeheim eine halbe Flasche Yardley-Lavendel, um den Ruf des Hauses wiederherzustellen.
Die letzten, ganz süßen Johannisbeeren, die, aus denen man den besten Saft, aber kein Gelee mehr einkochen kann, hingen noch an ein, zwei Sträuchern, da kamen Freunde der Eltern zu Gast. Als sie wieder abreisten, nahmen sie mich in ihrem Auto mit in die kleine, altmodische Residenzstadt, in der sie ein Haus inmitten von Gärten bewohnten, ein seltsames Mittelding zwischen Villa und Mietshaus. Ich sollte nur einige Wochen bleiben, dann wurden es doch zwei Monate. Der Nennonkel und die Nenntante, ein älteres Ehepaar voller Güte und bürgerlicher Würde, wollten mir etwas bieten, das weder Paris noch die Elisabethstraße in München mir geboten hatten, und erschlossen mir eine neue Welt: die Oper. Alle paar Tage saß ich im seidenen Kleid mit goldenen Sandalen auf dem Abonnementsplatz neben unsern Freunden in dem schönen Barocktheater und sah von Freischütz bis Bohème alles, was zu einem normalen Repertoire gehört. — In meinen begeisterten Briefen nach Hause ließ ich verlauten, daß ich nun zum erstenmal den Flügel und das Klavierspiel von Papa und Leo nicht mehr vermisse, daß die Konservenmusik aus dem Radio doch nichts sei und daß ich plane, im kommenden Winter meine musikalischen Kenntnisse zu vertiefen und in Richtung aufs Moderne zu erweitern. Papa hatte zwar schon kundgetan, daß Paris diesmal nicht in Frage komme, weil man dort für ihn so schwer ein Atelier bekäme, es gäbe eben zu viele Maler dort. Aber schließlich war ja Paris nicht die einzige europäische Hauptstadt außerhalb der Devisentrennwand, und eine Oper hatte jede.
Auf diese Pläne erwiderte Mama in ihrem Antwortbrief nur kurz: «Das findet sich dann alles.» Da das Vorplanen für eine ungewisse Zukunft eine der unschuldigen Drogen war, mit denen sie gewöhnlich den grauen Alltag versüßte, war ich ein bißchen erstaunt, vergaß es dann aber.
Als ich heimkam, war es Herbst. In den tausend Spinnweben rings um das Haus hing der Tau so dicht, daß sie gesponnenem Zucker glichen. Die glühend farbigen Dahlien in den Gärten der Seehamer ließen die Köpfe hängen, als hätten sie keine rechte Lust mehr, und in unserem Regenfaß verursachten herbstliche Winde fast so etwas wie Wellenschlag. In den Obstbäumen der Nachbarin leuchteten Äpfel
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