Ein Baum wächst übers Dach
lesen dürfen. Es mochte sich als Reiselektüre eignen. Federnden Schrittes näherte ich mich dem Bücherkarren auf Bahnsteig 2 und mußte erfahren, daß es sich bei der Autorin um eine Jüdin handle und das Buch nicht zu haben sei. Flüchtig kreuzten einige Bemerkungen des Probstenvaters, Austragsbauer zu Seeham, durch meine Gedanken, aber auch Mamas Mahnung: «Und noch etwas, Kind, behalte deine Meinungen immer hübsch für dich. Dies ist dein Gastland, und über seine Politik hast du nichts zu befinden.»
Ich bemühte mich noch, ein nichtssagendes «Soso» zu murmeln, während ich mich vom Bücherkarren wegwandte, da rief der Mann mit der roten Mütze: «Zum D-Zug nach Berlin bitte einsteigen und Türen schließen!»
4
«Nummer fünf. Sie wollten doch nach Nummer fünf, Frolleinchen?» vergewisserte sich der Chauffeur, ehe er die Taxameteruhr abstellte. Erst als seine roten Schlußlichter um die Ecke verschwunden waren, merkte ich, daß der Name der Familie, bei der eine Tante mich eingemietet hatte, auf den Wohnungsschildern nicht vorkam. Ich klingelte beim Portier. Überraschend tief unten schaute er aus einem Glasfenster. Ich fand es unfreundlich, so von oben herab mit ihm zu sprechen. Verlassen und ausgestoßen wie ich war, wollte ich möglichst nett zu allen Berlinern sein. Ich ging vor der Glasscheibe in die Hocke und erfuhr, daß ich mich zwar in Nummer fünf, aber nicht in der Jenaer Straße, sondern in der Lynarstraße befände. Der Portier tröstete mich, es sei gar nicht weit, und betete eine Menge Straßennamen herunter, die mir nichts sagten. Ich nahm meine Koffer und trat in die feuchte, windige Nacht hinaus. Die Schatten kahler Zweige tanzten vor mir her auf den hellerleuchteten Trottoiren. Hier und da wurde ein Hund ausgeführt. Alles war ganz fremd und neu. Ich ahnte, daß dieser kleine Gang ein Omen war, wenn auch kein unbedingt schlechtes. Es würde wohl nicht alles so ablaufen, wie Mama und ich es in Seeham geplant hatten.
Dennoch ging die nächsten Tage alles bewundernswert glatt. Meine möblierte Wirtin war reizend und half mir geduldig, alle Adressen in meinem ledernen Büchlein auf dem Stadtplan zu suchen. Sie gab mir Auskunft nach bestem Gewissen. Wo die jeweiligen Hausnummern lagen, wußte sie auch nicht, und so gewöhnte ich mich daran, von der U-Bahn- oder Stadtbahnstation aus noch einen etwa halbstündigen Fußmarsch einzurechnen, ehe eine unbekannte Tür sich öffnete und ich den freudigen Ausruf einer Tante vernahm: «Ja, das Isabellchen — und so groß geworden! Ja, wie geht’s denn zu Hause? Was machst denn du in Berlin?»
Berlin, eben noch eine Anhäufung von Straßennamen, begann ein Gesicht zu bekommen und teilte sich in Gegenden auf, in denen Verwandte und Freunde lebten. Ich fuhr halbe Tage lang U-Bahn, Stadtbahn, Elektrische und Omnibus. Überallhin war es weit — zum Zahnarzt und zur Schneiderin, zu Onkel Felix, ins Museum und ins Kaufhaus des Westens. Erst verstand ich gar nicht, wann die Berliner eigentlich zu ihrem Privatleben kamen bei diesen Entfernungen. Dann lernte ich, daß sie einen Teil davon in den öffentlichen Verkehrsmitteln absolvierten. Sie lasen. Auch ich lernte beim Fahren lesen: Auf einem Bein stehend, an einem Handgriff hängend, ja sogar beim Hineindrängeln in einen U-Bahnwag-gon. Zeitungen kamen wegen ihres Formates nicht in Frage, man deckte den Nachbarn das Gesichtsfeld zu. Ich las sie sowieso nie gern. Bücher jeder Art aber eigneten sich prächtig. Ich holte viel nach, und meine Bildungslücken schlossen sich. Bald verloren meine Augen auch die Zeile nicht mehr, wenn einen Moment das Licht aussetzte, und wenn beim Auftauchen aus dem U-Bahnschacht am Nollendorfplatz blendende Helligkeit in den Wagen strömte, blinzelte ich kaum noch.
Ich hatte viel zu fahren und nach ein paar Wochen sogar viel zu tun. Jedenfalls schien es mir so. Ich lernte Handelskorrespondenz in zwei Sprachen, frischte in einem Kurs meine Stenographiekenntnisse auf, rückte eine gemietete Schreibmaschine ans Fenster meines möblierten Zimmers, und als der erste Schnee fiel, tippte ich schon mit geschlossenen Augen sechzehnmal hintereinander fehlerfrei Wurzel Kursverlust Wurzel Kursverlust. In der verbleibenden Zeit, wenn ich nicht gerade ein Viertel Aufschnitt oder ein Gurgelmittel kaufen mußte, kritzelte ich Postkarten an Mama. «Schreib öfters eine Postkarte, das ist mir lieber als seltene, lange Briefe», hatte sie gesagt. — Ich suchte mir beim
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