Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
Vom Netzwerk:
Schreibwarenmann an der Ecke die spitzeste Feder aus und bekam mit ganz kleiner Schrift mehr auf eine gewöhnliche Postkarte als andere auf dreiseitige Briefe. Das Auslandsporto war verhältnismäßig hoch und ich brauchte sowieso viel zuviel Geld. Mama kaufte sich eine stärkere Brille. Onkel, Tanten, Freunde und Cousinen waren rührend und riefen von Zeit zu Zeit bei der möblierten Wirtin an, wie es mir denn ginge. Wenn es auch sehr angenehm war, stets zu wissen, wo man am Sonntagmittag zu Kalbsbraten und wo man am Nachmittag zu Napfkuchen und Kaffee willkommen war, so brachten mich doch die vielen mir zuteil werdenden Ratschläge etwas in Verwirrung.
    «Du solltest bei deinen Sprachkenntnissen in eins der neuen Ämter gehen, die schießen ja jetzt wie Pilze aus der Erde», hieß es.
    «Sieh dich doch mal bei der Automobilindustrie um — da werden Sekretärinnen gebraucht wie Sand am Meer, die vergrößern ja alle, das hat mit der Rüstung zu tun, und du verdienst dich dumm und lahm.»
    «Wo du so leicht auffaßt, solltest du in eines der großen wissenschaftlichen Institute gehen. Die schieben dort eine sehr ruhige Kugel, wenn sie auch nicht so viel zahlen wie die Industrie.»
    «Ein Mädchen, das so aussieht wie du, mein liebes Kind, sollte überhaupt nicht in einem Büro versauern. Warum versuchst du es nicht als Stewardeß bei der Lufthansa?» meinte ein liebenswürdiger Onkel.
    Das gefährlichste Gift jedoch träufelte eine alte Dame in meine Seele, die sich von mir mit amüsiertem Gesicht eine Stunde lang über Seehams Land und Leute berichten ließ, dann die Brille abnahm, das Etui laut zuklappte und sprach: «Ich verstehe nicht, warum du dich mit diesem stenotypistischen Kram abgibst — du gehörst doch auf die Bühne!»
    Sie ahnte nicht, die Gute, daß sie ein Feuer anblies, das schon seit der Elisabethstraße in München in mir schwelte. Nach gedankenvollen Tagen suchte ich die Adresse einer Dame auf, die mir empfohlen worden war. Sie war eine berühmte Schauspiellehrerin. In ihrer Wohnung, kaum daß ich den Hut abgenommen hatte, kniete ich auf dem Teppich nieder und sprach die Lucile aus «Dantons Tod». Ich kann die Szene heute noch.
    Die Schauspiellehrerin war eine vernünftige Frau. Sie sagte mir etwas, das man mir im Schoße der Familie niemals gesagt hatte. «Talent haben Sie, das steht außer Zweifel. Sie haben sogar recht viel. Aber wissen Sie auch, daß Talent nur etwa zwanzig Prozent von dem ausmacht, was Sie für diese Karriere brauchen?» Sie zählte mir nun das eine oder andere aus den übrigen achtzig Prozent auf, es waren lauter Dinge, die ich zweifellos nicht konnte und auch nicht wollte — und entließ mich mit den Worten: «Eilen Sie sich! Wenn Sie zu Gründgens wollen, haben Sie nur noch ein Jahr Zeit, danach nimmt er Sie nicht mehr!
    Mit nach innen gekehrtem Blick setzte ich mich auf eine Bank am Laubenheimer Platz in Wilmersdorf und prüfte mich. War es möglich, daß dies ein Fingerzeig des Schicksals sein sollte — ein Wegweiser zur Villa am Cap d’Antibes? Wie stand es mit der Chance, jene Blumen, die im sauren Seehamer Torfboden so gar nicht gedeihen wollten, aus Treibhäusern direkt auf die Bühne geliefert zu bekommen? Im Geiste sah ich mich in Shakespeares «Was ihr wollt» auf der Bühne des Schauspielhauses am Gendarmenmarkt. Wie mir das Pagenkostüm der Viola stehen würde! «Was ist dies Land?»
    «Illyrien, Fräulein!» Mit einem Ruck kam ich zu mir. Ach nein, es war nicht Illyrien. Es war der Laubenheimer Platz. Ich würde es nicht schaffen und beschloß seufzend, die Finger davon zu lassen. Es mußte noch andere Wege an die Riviera geben.
    Ich stand auf, grüßte in der Erleichterung meines Herzens einen höflich erstaunten Schutzmann, der nicht ahnte, welche Karriere gerade neben ihm zu Ende gegangen war, und trat in die nächste Telefonzelle. Ehe es mir leid tun oder mich meine Schüchternheit wieder übermannen konnte, rief ich einen wohlgesonnenen Freund an, dessen Telefonnummer dick unterstrichen im kleinen Lederbüchlein verzeichnet stand. Er arbeitete in irgendeinem der neuen Seiten- oder Nebenministerien mit der Vorsilbe «Reichs-», denen ich jetzt überall begegnete.
    Nach kurzen Zwischenspielen mit eifrigen Stimmen, die alle «Ich verbinde weiter...» sagten, meldete sich der Freund und freute sich, daß ich in Berlin sei. Ich hatte ihn zehn Jahre nicht gesehen, und so fiel es mir leichter, ihm einen kurzen telefonischen Lebenslauf zu geben.
    «Mein

Weitere Kostenlose Bücher