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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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vorgestellt? Sie waren, zum mindesten diejenigen unserer kleinen Abteilung, schön, wohlerzogen und liebenswürdig, und die Macht, die sie über uns hatten, ging noch ein gutes Stück über die des Deutschlehrers im Münchner Lyzeum hinaus. Ich liebte sie alle, einzeln, nacheinander und durcheinander, ohne daß sie etwas davon merkten, und fiel unter dem Ansturm meines Herzklopfens fast in Ohnmacht, wenn ich neben ihnen am Schreibtisch stand und darauf wartete, daß sie in der Unterschriftenmappe ihre Krikelkrakel unter die von mir getippten Briefe setzten. Zu allem Überfluß begegnete man ihnen auch noch auf Einladungen, weil es, wie einer von ihnen sich ausdrückte, «auf der Welt sowieso nur fünfhundert Leute gäbe und die sich untereinander kennen würden». Schon damals in der Elisabethstraße war mir nie klar gewesen, ob ich meinem angebeteten Deutschlehrer privat die Hand geben durfte, wenn ich ihn auf der Straße traf. Noch viel weniger wußte ich, ob ich mich beim Tanz an den Schlips eines Mannes schmiegen durfte, der mir in weniger als acht Stunden einen Brief an Rheinmetall-Borsig diktieren würde. Nun, es ging ausgezeichnet, weil am nächsten Morgen im Büro tatsächlich nur von Geschäftlichem die Rede war.
    Der Empfang des ersten, so glühend herbeigesehnten Gehaltes war eine herbe Enttäuschung. In der Tüte war ein langer Papierstreifen, und auf ihm waren so viele Sonderabgaben verzeichnet, daß die Endsumme verschwindend klein war. Immerhin, es war eigenes Geld, und ich brauchte nicht, wie früher zu Hause, verstaubte Flaschen vom Küchenbalkon in die Geschäfte zurückzutragen oder alte Bücher zum Antiquar, um mein Taschengeld etwas aufzubessern.
    Mama schrieb, sie höre aus Seeham nichts und nannte in ihrer Aufgebrachtheit die Haus- und Hundebetreuerin eine dumme Person. Mir riet sie, mich immer warm zu halten, bescheiden und höflich zu sein und den Scheitel richtig bis hinten durchzuziehen, dann säße das Haar gleich viel besser. — Was man zu erwidern hatte, wenn die Stirn eines Halbgottes hinter seinem Schreibtisch sich entfurchte und er fragte: «Meine Frau ist verreist, was haben Sie heute abend vor?» schrieb sie nicht.
    Es ließ sich nicht leugnen, mit den Anstandsregeln von zu Hause kam man in Berlin nicht durch. Wie dumm stand ich da, wenn ich, spät abends vor meiner Haustür abgesetzt, freundlich ermahnt wurde: «Na also, Sie Küken, hab ich Sie gefressen?» Wie dumm auch, wenn ich eines Morgens erbleichend vernahm, Herr Dr. Dingsda sei krank geworden, ich hätte mich in ein Taxi zu werfen und sein Diktat aufzunehmen, es sei sehr wichtig, daß der große Sitzungsbericht morgen hinausginge. Unvermutet fand ich mich in der Wohnung eines Herrn, mit dem ich nicht einmal entfernt verwandt war, ja, mehr noch, ich saß an seinem Bett und er sagte: «Liebes Kind, suchen Sie mir mal ein Aspirin, es muß irgendwo im Badezimmer liegen.» Ich neigte mich mit rotglühenden Ohren über den Stenoblock und versuchte, nicht darauf zu achten, in welchen Farben der Pyjama des fremden Herrn gestreift war. Als ich nachher feststellen mußte, daß auch noch das Dienstmädchen ausgegangen war, glichen meine Gefühle denen des Reiters über den Bodensee.
    Dies und manches andere berichtete ich getreulich an die Eltern. Mit Postkarten kam ich nicht mehr aus, die Briefe wurden lang und länger, denn jede neue Person des täglichen Dramas mußte eingeführt und genau beschrieben werden, ja, ich nannte sogar das Getränk, das ich mit einem der Herren, die mir zu diktieren hatten, auf dem Kurfürstendamm trank, mit Namen. Sollte Mama sich über meinen neuen Lebenswandel aufgeregt haben, so ließ sie es mich im Antwortbrief jedenfalls nicht merken. Papa aber griff zur Feder, was eine Seltenheit war, und schrieb an den Rand: «Es geht nicht, daß du Cherry-Brandy und Sherry verwechselst. Das eine kommt von Kirsche, wie dir bekannt sein dürfte, und ist ein Schnaps, das andere ist eine Verballhornung von Jerez (de la Frontera) und somit ein Süßwein. Kuß Papa. P.S. Hörst Du etwas aus Seeham?»
    Die Forsythien in den Vorgärten Wilmersdorfs blühten auf und wieder ab, man packte die Fausthandschuhe weg, die Bäume wurden grün, die Luft lau, die Chefs kamen montags früh braungebrannt ins Büro. Das sachlich-freundliche Berlin bekam eine neue Melodie. Heimweh und Fernweh waren darin. Selbst der ferne Autolärm schien davon zu sprechen, daß das Glück dort war, wo man selber gerade nicht hinkam.
    Die herrliche

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