Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
Vom Netzwerk:
aufleuchten. Der Blechtopf von Dampfer war zum Umarmen lieb, der bärtige Kapitän desgleichen. Die bunten Postkarten des schönen Königs Ludwig standen noch immer im drehbaren Ständer mitten im Schiff. Daneben waren leider Konterfeis von dem Mann mit dem wenig ansprechenden Bärtchen zu sehen: mit Wolfshund, sich zu Kindern neigend, einen Blumenstrauß in Empfang nehmend.
    Die Familie bildete mit dem Hund eine blonde Gruppe auf dem Landungssteg. Noch nie waren die Anlegemanöver so langsam vor sich gegangen. Ulf roch voller Vorfreude wedelnd an jedem Aussteigenden. Einzig die Rücksicht auf Mama, die in Bayerns Folklore nie ganz heimisch werden konnte, hinderte mich daran, einen saftigen Jodler auszustoßen. Bruder Leo, schon etwa vier Wochen vor mir in Seeham eingetroffen, war so sonnenverbrannt, daß seine Stirn an Schinken erinnerte, aber es stand ihm gut.
    «Servus», sagte er zur Begrüßung, «das hast du gut gemacht, daß du Urlaub hast, wenn ich auch gerade da bin. Im übrigen: Ich gratuliere nachträglich. Wann kriegst du eigentlich Gehaltserhöhung? Ich habe dir ja immer gesagt, richte dich nicht nach den Malzkaffeereklamen, nicht der Gehalt machts, sondern das Gehalt. Gib mir mal deinen Koffer!»
    Mama fand, ich sei zu dünn geworden, ich solle mir doch künftig in der Kantine immer noch ein Stück Kuchen nachbestellen und jetzt einmal ein paar Wochen tüchtig essen und schlafen. Sie konnte sich kaum verständlich machen, weil Ulf so jaulte und hopste und mir das Gesicht zu lecken versuchte. Papa griff ihn ganz kurz am Halsband, so daß der Landungssteg nun auch für andere Leute wieder passierbar wurde, und meinte, das mit dem Schlafen könne man auch übertreiben, ich solle lieber mit ihm den neuen Steinpilzplatz erforschen, der sei fabelhaft. Sie hätten neulich mit Leo einen Rucksack gebraucht, um die Ernte einzubringen.
    Die Ligusterhecke war stark gewachsen: man konnte kaum mehr erkennen, ob es die Huber-Wally oder die Wagner-Lisi war, die da an uns vorüber aufs Feld ging. Ein hölzerner Rechen schwebte den Weg entlang, das war alles. Das Haus war ein wenig ergraut, im Westen, wo der Regen dagegenschlug, sogar verwaschen.
    Bruder Leo sagte gleich, das hätte er auch bemerkt. Ob ich ein Paar alte Shorts hätte? Ja, wozu denn? Weil sie meist weggeschmissen werden müßten, nachdem man darin ein Haus mit Karbolineum angestrichen hätte. Das nämlich sei es, was da nottäte. Bei der Regentonne warteten schon zwei große Blechkanister.
    In der Küche wirkte ein schweißtriefendes Wesen, das nur zum Kochen und Abspülen kam und dann auf einen fernen Hof heimradelte. Ulf, der wußte, daß er von dort Knochen mitgebracht bekam, riß sie bei ihrem Kommen jedesmal vor Zärtlichkeit fast vom Rad.
    Mein Dachkämmerlein hatte an Aussicht verloren, an Gemütlichkeit jedoch gewonnen. Die Weide war so hoch geworden, daß ihre silbrigen Federwedel meine Welt dort etwas begrenzten. Bei Westwind und gar bei Sturm sägte ihr Wipfel an der Dachschräge, und das Haus erklang wie eine Geige. Wie still es nachts hier war! Ich hatte es ganz vergessen. Bläulich vom Tau lag das Gras, mondlichtübergossen, die Luft schwirrte vom Zirpen der Grillen, man konnte meinen, die Sterne gäben diesen Ton von sich, so fern und sphärenhaft war er.
    Noch für andere Naturerscheinungen hatte Berlin mir neue Augen und Ohren geschenkt: für Seehams Bevölkerung. Früher hatte ich sie als selbstverständlich hingenommen und kaum beachtet. Diesmal ging ich daran, manche in meiner frühesten Kindheit geschlossene Bekanntschaft zu erneuern und zu vertiefen.
    Wenn ich den Vormittag über an der heißen Haus wand mit dem Teerpinsel tätig gewesen war, hatte ich keine Lust, nachmittags nochmals den Herd anzuheizen. Ich trug daher die Apfelkuchen, nach denen es die Familie und mich gelüstete, zum Bäcker zum Ausbacken. Das Warten dort war etwas eintönig. In der sauber aufgeräumten Backstube mit den großen Knetbottichen gab es als Lektüre nur eine leicht angesengte Seite aus dem Altöttinger Kirchenboten. Ich lernte die Hitze des Backofens richtig einschätzen und entwich, um mich in einem der umliegenden Höfe mit einem Gruß auf der Hausbank niederzulassen.
    Wenn ich Glück hatte, saßen dort ein oder zwei der Seehamer Originale und verkürzten mir die Backzeit des Apfelkuchens. Ich stellte fest, daß eine gewisse Reserviertheit, die sich trotz des landesüblichen «Du» zwischen den Dorfbewohnern und einer Städterin wie mir noch

Weitere Kostenlose Bücher