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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Freiheit und Selbständigkeit waren plötzlich schwer zu ertragen. Wie hatte ich mich immer darauf gefreut, halbe Tage wegbleiben zu dürfen, ohne zu Hause anrufen und Bescheid sagen zu müssen, stundenlang im Bad liegenzubleiben, ohne daß jemand rief: «Kind, nun aber raus!» und abends nach dem Kino noch irgendwohin zu gehen und eine Tasse Schokolade zu trinken. Das alles hatte ich nun. Aber man mußte auch in ein möbliertes Zimmer pünktlich zurückkehren, weil man sonst bis in die Nacht Strümpfe waschen und Briefe schreiben mußte, im zu langen heißen Bad riskierte man Herztriller und Schnupfen, und die Cafés nach dem Kino waren rauchig, laut und von unangenehmen Leuten bevölkert, die einen anstarrten.
    Ob ich Heimweh hatte? Die Kolleginnen sagten, das seien nur die üblichen Frühlingsgefühle und die kämen von dem künstlichen Licht, bei dem wir einen Großteil des Tages arbeiteten. Sie schleppten mich mittags zehn Minuten in den nahen Tiergarten, damit ich die Rhododendren blühen sähe, empfahlen mir, tief zu atmen und meine Augen fest auf das Blattgrün zu heften. Doch bald darauf erging aus einem der Säle, an deren Wänden überdimensionale Adler ihre kraftgeschwollenen Klauen an ein Hakenkreuz klammerten, der Befehl, die Schreibkräfte hätten über Mittag das Haus nicht zu verlassen. Ich nahm daran eigentlich die häßliche Bezeichnung «Schreibkraft» am meisten übel.
    Wenn die Sonne aus den stillen Höfen verschwand, auf die nichts mündete als anonyme Bürofenster, und in denen wunderbarerweise trotzdem Amseln sangen, mußte die letzte, beziehungsweise die jüngste Sekretärin alle Fenster schließen. Die Jüngste war immer ich. Der Gesang der Amseln, von all dem Stein ringsum überlaut zurückgeworfen, zerriß mir das Herz. Fünf Minuten lang stand ich völlig verloren hinter dem Glas, zu nichts und niemandem gehörig, und schluckte an meinen Tränen, die ja, wie ich mir vorsagte, gänzlich grundlos waren.
    Diese Erscheinung, so klärten mich die Kolleginnen auf, sei die sogenannte Büroschlußwehmut und es gäbe ein Mittel dagegen: Sich sooft wie möglich direkt nach Dienstschluß mit jemandem zu verabreden und mit ihm essen zu gehen. Dieser Ratschlag war gut, aber er eignete sich nur für Menschen mit eiserner Gesundheit und ausgewogenem seelischen Gleichgewicht. Ich war nicht dickfellig genug, und es fiel mir schrecklich schwer, die Leute wieder loszuwerden, die mich über den Abend hinweggetröstet hatten. Das nächtliche Berlin jedoch war sehr reizvoll, vor allem die Lokale, nach deren Besuch ich mein Kleid für einen Tag auf dem Küchenbalkon meiner Wirtin an die Luft hängen mußte, weil es so verräuchert war. Auch die Art, wie der Funkturm sein Licht suchend nach mir durch die Straßen drehte, mich nach jedem Barbesuch wiederfand und fragte, ob ich auch brav gewesen sei, war rührend. Aber ich hätte viel mehr Schlaf nötig gehabt. In meiner Übermüdung fiel ich von einer Erkältung in die andere. Ich gewöhnte mir an, alle Medikamente, die zwischen meinem morgendlichen Aufbruch ins Büro und der Heimkehr durch die nachtstille, ausgestorbene Stadt nötig werden konnten, in meiner Handtasche bei mir zu tragen: Aspirin, Lutschtabletten gegen Halsweh, Kopfschmerzmittel und Kola Dalimann. Hinter der Puderdose und den Hausschlüsseln stak noch etwas, eine krumme kleine Wurzel aus dem Himbeerwald bei Seeham. Gegen Heimweh und Unrast half sie nichts, aber wenn ich sie hervorzog und ansah, fiel mir wieder ein, wie ich wirklich war. Ich wußte es oft nicht mehr, weil mir so viele Leute einredeten, ich sei so, wie ich mich in ihren Augen spiegelte.
    Ja, der Sommer war schwer zu ertragen. Die anderen Mädchen schienen nichts dabei zu finden. Sie sprachen von Urlaub und blickten verbissen optimistisch in eine ungewisse Zukunft. Nun, was sie konnten, würde ich auch können. Ich kaufte mir eine Dose Biomalz und bekämpfte die Augenblicke nackter Panik beim Bürofensterschließen, in denen ich fürchtete, sie in zwanzig Jahren noch immer so schließen zu müssen und dabei auszusehen wie Fräulein Otte von der Registratur, die bereits anderthalb Stühle zum Sitzen brauchte und ihren Ledigenunmut an ihrer Umwelt ausließ.
    Irgendein Jammerton muß in einem meiner Briefe an Bruder Leo aufgeklungen sein, denn seine Antwort lautete: «Was heißt hier, du hättest dankbar zu sein und somit pausenlos vergnügt? Diese Tugendübungen sind Blödsinn! Juhu macht der Mensch nur selten und in großen

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