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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Abständen, und dazwischen muß man halt sehen, wie man weiterkommt!»
    Er hatte recht, noch immer gab es Stimmungshöhepunkte, in denen ich die Welt umarmen wollte, U-Bahnschaffnern zulächelte und fremde Jungdackel ansprach, dazwischen aber weite Zeiträume, wo ich mit dem Gedanken spielte, mich zwischen Wittenbergplatz und Krummer Lanke vor die U-Bahn zu werfen. Meine Arbeit im Büro konnte auch jemand anders tun, ich war nicht unersetzlich. In die brillante Zukunft meiner Träume schien bei allem Fleiß kein Weg zu führen, und in die Geborgenheit der Elisabethstraße gab es kein Zurück.
    Damals war in Berlin die Theorie weit verbreitet, daß einem jungen Mädchen aus gutem Hause, das augenscheinlich nicht recht glücklich war, nur eines fehlen könne: ein Abenteuer. Männer unter Dreißig machten mir auf diesem Gebiet direkte und detaillierte Vorschläge. Männer über Dreißig, zumeist verheiratet, dachten zwar dasselbe, mieden aber die direkte Attacke. Sie ließen Musik für sich sprechen und schickten mir die zu unseren geführten Gesprächen passenden Inselbändchen ins Büro. Diese Gespräche drehten sich um das, was man in meinem Alter für das weitaus Interessanteste hielt: um mich selber! Nun wäre endlich Gelegenheit gewesen, mit dem verruchten Treiben der Heldinnen von Vicky Baum anzufangen — aber von nahem besehen lag mir auch diese Rolle nur theoretisch. Entweder war ich wirklich so tugendhaft, wie die jungen Männer es mir im Zorne vorwarfen, oder aber der Urgroßvater hatte damals die Vitalität für mehrere Generationen verbraucht und für mich war nicht mehr genug übrig.
    Die Dame, die damals so dafür gewesen war, daß ich zur Bühne ging, tröstete mich, ohne es zu wissen. «Ach», sagte sie, «du hast wohl gedacht, Alleinsein sei leicht, wie?» und sah mich über den oberen Rand ihrer Brille aufmerksam an. «Vielleicht ist es gerade das, was du in Berlin lernen sollst!»
    Es traf sich günstig, daß nun endlich der Urlaub herannahte, denn ich mußte während eines Konzertes in der Philharmonie bemerken, daß Tränen meinen Augen entflossen und tickend auf das Programm fielen. Ich war, wie die Portiersfrau sagte, «total mit die Nerven fertig». Laut Reichs- oder NS-Arbeitsordnung standen mir zehn Arbeitstage im Jahr Urlaub zu. Ein freundlicher Arzt bestätigte mir jedoch nach kurzer Untersuchung, daß ich einen verlängerten, wenn auch unbezahlten Urlaub nötig hätte. Gerade weil die Arbeit für das tausendjährige Reich als so ehrend erachtet wurde, brauchte man für jedes Aus-der-Reihe-Tanzen ein gestempeltes Papier. Den Stempel vergab das Amt, das Seiten- oder Nebenministerium, das ich inzwischen, bösen Beispielen folgend, als «Saftladen», «Ausschank» oder «Knochenmühle» zu betiteln mir angewöhnt hatte.
    Als ich dem Obersten meiner diktierenden Halbgötter zitternd mein Attest reichte, warf er nur einen flüchtigen Blick darauf, faltete es zusammen und murmelte: «Schwindel am Morgen, Schwindel am Abend, alles Schwindel. Gehen Sie mit Gott. Wo sind Sie denn zu Hause?»
    Ich zögerte einen Augenblick lang mit der Antwort, bis mir klar wurde, daß ich nur noch ein Zuhause hatte: das Sommerhaus in Seeham, den Notbehelf, den Sommerfrischenersatz. Mein Lächeln geriet breit und breiter, schließlich brachte ich hervor, daß ich in Bayern wohne, an einem See.
    Am letzten Arbeitstag ergriff ich bei Dienstschluß meine Handtasche und schoß aus dem Portal wie ein Dackel, den man von der Leine läßt. Telefonisch verabschiedete ich mich von einigen Tanten, die so liebenswürdig waren, mir zu sagen, ich hätte mich ja soweit tapfer durchgebissen und meine Eltern würden mit mir zufrieden sein, dann stürzte ich zum Anhalter Bahnhof.
    Was bedeuteten Bindehautkatarrh und Halsentzündung, wenn man nach einem Jahr die Gipfel der heimatlichen Berge auftauchen sah! Ich kurbelte das D-Zug-Fenster herunter und stand, zum Mißfallen der Mitreisenden, das letzte Stück der Fahrt medusengleich mit sturmgepeitschtem Haar im Luftzug. Nach Berlin hatte ich reisen müssen, um mir klarzuwerden, wie sehr ich an Bayern hing. Wohin liefen die schneeweißen Wege, die ich vom Zug aus sah? Ein Leben würde nicht ausreichen, sich an ihnen von Dorf zu Dorf entlangzutasten. Zu dumm, daß man zwischendurch Geld verdienen mußte. An einem weiten, offenen Himmel stürmten barockgeformte Wolken wie ein Engelszug dahin, ihre wandernden Schatten ließen die Hänge und Almen auf den Bergen erlöschen und wieder

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