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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Strümpfe und zwei Hemden hatte sie ein Jahr lang als Stallmagd arbeiten müssen. Später hatte sie dann den Nachbarn geheiratet, der auf dem verblichenen Brautbild an der Wand einen so schneidig aufgezwirbelten Schnurrbart trug. Ernst und voller Unbehagen lehnte die Braut in dem geschnitzten Fotografenstuhl, damals noch so etwas wie hold zu nennen. Seitdem hatte sie zehn Kinder und unzählige Ernten hinter sich gebracht: das Heu, das glühendheiße Korn, die Streu in den feuchten Schilfwiesen am See, wo es einem die Füße zerschnitt. Ihre stillsten Augenblicke hatte sie gehabt, wenn sie beim Melken die Stirn im fleckigen Kopftuch an die Flanke einer Kuh hatte lehnen dürfen. Am Sonntag trug sie noch immer die Jacke mit den aufgesteppten schwarzen Litzen und dem Schößchen, das noch aus der Zeit vor dem Weltkrieg stammte. Von neumodischem Wesen hielt sie wenig. Da wollte nun heute jeder ein Motorrad, und zu Weihnachten mußten es teure Geschenke sein und ein Christbaum. Früher hatte der Vater, wenn Jahrmarkt gewesen war, jedem Kind eine Semmel und eine Wurst mitgebracht, und zu Weihnachten gab es ein gekochtes Rindfleisch auf einem weißen Tuch und vielleicht eine neue Schürze. Ein Christbaum, o mei, wo hätte man ihn denn auch hinstellen sollen mit neun Kindern in der Stube? Krank war sie niemals, nur einmal war es ihr schlecht geworden, in einem Autobus aufs Amtsgericht in die kleine Kreisstadt, und sie hätte sich womöglich erbrechen müssen, wenn eine hilfreiche Mitreisende ihr nicht geraten hätte, ihren Schlüsselbund um den Hals zu hängen: dieses probate Mittel half sofort gegen die Übelkeit.
    Ich konnte nicht genug von damals hören und fragte sie vieles. Eine Frage aber hatte auch sie. «Du wennst jetzt wieder auffi fährst in dös Berlin und redst mit di Leit, verstegn die di?»
    Ich errötete vor Freude. Mir war nie bestätigt worden, daß ich gut Bayrisch sprach, wenn man von der flotten Verständigung mit Beerenweiblein absah.
    Selbst ein Urlaub, der durch milden Schwindel unbezahlt verlängert wurde, ist viel zu kurz, wenn man ein großes Programm hat. Der Regen strich einige Punkte, war aber sonst sehr gemütlich. Draußen im Garten rieselte es still und silbern auf die Bäume, die die Augen niedergeschlagen hielten. Die Regenrinne planschte ins Regenfaß, verschluckte sich manchmal, wenn ein Windstoß dazwischenfuhr, und rauschte dann wieder, als sei nichts geschehen. Bruder Leo und ich legten die alten Puzzles, die nach aromatischem Holz und muffigem Schrank rochen, auf dem Wohnzimmertisch und protestierten zeternd, wenn endlich der Tisch gedeckt werden mußte.
    Von meinen vielen Plänen bis zur Abreise blieben nur die unerläßlichsten übrig: Eine Rudertour mit Picknick auf einer fremden Landzunge, bei dem Papa die Fische am offenen Feuer briet — sie schmeckten nicht besonders gut, weil ich vorher mit dem Badeschuh in das Papier mit dem Salz getreten war — , eine große Radtour ins Gebirge — während man seine rauchenden Bremsen abkühlen läßt, hat man einen ganz besonderen Genuß an der Landschaft — und einmal Walderdbeeren mit Schlagsahne für die Familie. Die Walderdbeeren suchte ich allein, und wir aßen sie zu fünft. Umgekehrt wäre es natürlich viel lohnender gewesen.
    Alle, die an den Erdbeeren mitgegessen hatten, halfen mir Koffer packen. Dadurch blieb vieles in Seeham liegen. Der geflochtene Strohhut aber wurde zur Erinnerung an den Sommer noch obenauf in den Koffer gequetscht. Dabei brach die Krempe ab, und als ich ihn in Berlin auspackte, war er nur noch als Dekoration für eventuellen Budenzauber zu verwenden.
    Nur einen einzigen Abschiedsbesuch machte ich, bei einem Freunde meiner Kindheit, einem Nennonkel und hohen geistlichen Würdenträger, der sich abseits von Seeham einen Ruhesitz gebaut hatte. Unsere Bekanntschaft datierte noch aus der Zeit, in der ich mit Kinderfrau, gestärktem Kleide und langen Korkenzieherlocken im Englischen Garten in München spazierenging. Er war so liebenswürdig oder so weise, die Veränderungen zu übersehen, die seither mit mir vorgegangen waren. In kniffligen Glaubensfragen wandte ich mich stets an ihn, als die mir höchste bekannte Instanz. So wollte ich einmal wissen, ob die Nonnen im Kloster statt eines verschlungenen Monogramms die verschlungenen Buchstaben Jesu, Heiland, Seligmacher auf dem Überschlaglaken eingestickt hätten. Er war keineswegs schockiert. Tausend Lachfältchen spielten um seine gütigen Augen, als er sagte:

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