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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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antrieb, ein Rad über den Fuß. Es war während meines Urlaubs und ich hatte somit Gelegenheit, ihm mein Mitgefühl zu zeigen. Er saß friedlich vorm Haus, den Fuß im Verband.
    «Hat’s recht weh ‘tan?»
    «Naa, net recht. An guatn Kaffee hat mir d’Mutter kocht.»
    Ich bin überzeugt, daß das Rad des Kiesfuhrwerkes eher einer Reparatur bedurfte als der Lenzen Simmerl.
    Kraft und Unkompliziertheit waren es, die die Bewohner Seehams auszeichneten. Böswillige behaupteten, es seien kurz nach den Kreuzzügen an unserem Ufer Verbrecher angesiedelt worden. Wenn es auch im Kriege und kurz danach Momente gegeben hat, wo ich mich fragte, ob nicht doch etwas Wahres an dieser Vermutung sei, so hat es doch die Seehamer in meinen Augen niemals präjudiziert.
    Und was für prachtvolle Frauen sie hatten! Bei ihrem Anblick hätten sich Maler wie Leibl vor Entzücken in den Daumen gebissen und nach der Palette gegriffen: von der Arbeit gekrümmte Wesen mit ausdrucksvoll verrunzelten Händen, voller Humor und Weisheit, die nur eine einzige Erholung kannten — das Wallfahren. Früh um vier Uhr standen sie auf und pilgerten barfuß über Land. Nur die alte Weishamerin ging in Stiefeln, denn die waren ihr unbequem und es sollte ja ein Opfer gebracht werden, damit die Gnadenmutter auch zuhörte, wenn man sie um etwas bat.
    Ganz nah bei der Bäckerei lag das quadratische Gärtchen, in dem die Huberin, sofern sie nicht im Stall war, ihre Rosen aufband. Ihre Tochter hatte keinen Vater zu ihrem Kind, einem reizenden, wohlerzogenen Mädelchen. Einmal kamen wir darüber ins Gespräch: «Du hältst ‘s streng, die Deinige», sagte ich anerkennend. «Mei, i muß scho», gab sie ruhig zur Antwort. «Koan Vater hat’s net.» Ich erinnerte mich, daß er früher alle Sonntage gekommen war und seine Tochter auf dem Knie gehalten hatte, und zeigte Erstaunen. «Er kimmt nimmer», sagte die Huber Lony, ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern. «Er verehrt an’ andere. I leg ihm nix in’ Weg.»
    Ihr Schicksal war erfüllt. Es war sinnlos, weitere Worte zu machen. In der Sommerglut dufteten Petersilie, Sellerie und Kerbel im Gärtchen so stark, daß es war, als stünde man in einem warmen Suppenbad. Ich lehnte die Arme auf das Drahtgitter und sah der Huberin zu, wie sie sich bückte und aufrichtete. Die Rosen, der Zaun und die in und aus der Stalltür schießenden Schwalben spiegelten sich in der goldenen Glaskugel auf dem Stock, eine winzige kleine Welt auf goldenem Grund, wie ein mittelalterliches Altarbildchen.
    Allzu lange konnte ich mich nicht aufhalten, denn nun eilte es mit dem Apfelkuchen. Oft mußte ich die braungewordenen Ränder dem Hund Ulf abtreten. Meine sportliche Ausbildung  ermöglichte es mir, mit dem noch heißen Kuchenblech über eine Wiese voller Maulwurfshügel zu radeln. Zu Hause empfing mich die Familie mit anfeuernden Rufen, einer bereitgestellten Tortenplatte und angebrühtem Tee.
    Was man liebt, will man genauer kennen. Auf meine Frage nach den Zusammenhängen zwischen den einzelnen Seehamer Höfen hielt mir Papa einen Einführungsvortrag über die Drei-Einigkeit der Seehamer Namen: den Hofnamen, den Schreibnamen und den Rufnamen.
    «Also paß auf: Der Albert, den kennst du doch, den mit dem Kropf? Siehst du, der schreibt sich Helminger, und der Hof heißt . Deshalb darfst du ihn zwar mit Albert und Du, aber auch mit Herr Helminger und Sie, nicht aber etwa mit Herr Brandstätter anreden. Anders ist es zum Beispiel beim Berti, der schreibt sich Pabst, und nennen tut man ihn den Kressen.»
    Ich atmete tief aus, lernte dann alles Nötige mit Eifer. War es nicht ein Glück, daß es dann bei dem Gelernten blieb und die Söhne der Seehamer nicht auch noch anders hießen wie beim englischen Adel?
    Zu meiner liebsten Seehamerin, meiner Nachbarin, aber ging ich erst, wenn die Sonne sank und ihre Stallarbeit vorüber war. Dann saß sie auf der Hausbank, blickte in ihren Obstanger und hatte die alten, verhornten Füße in einem hölzernen Wasserbottich stehen. Ich setzte mich neben sie, und sie sprach davon, daß das Wetter wohl noch länger so anhalten würde und wie wohl einem so ein Fußbad tat, kalt im Sommer und heiß im Winter. Andere Zerstreuungen hatte sie nie gekannt, sie war nie im Theater, nie im Kino gewesen, und das einzige Buch, das sie gelesen hatte, war ihr Katechismus, den sie als Kind, mit dem Öllämpchen hinterm Ofen sitzend, auswendig lernte. Für einhundertzwanzig Mark, zwei Paar

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