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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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balangsieren soll.»
    Obgleich es mir leid tat, mein liebenswertes Zwischendomizil eines Tages verlassen zu müssen, kaufte ich mir doch heroisch jeden Samstag die Morgenpost und sah die Anzeigen für möblierte Zimmer durch. Aber es war plötzlich nicht mehr so wichtig, wann und wo ich ein Zimmer fand, ja nicht einmal mehr, ob meine Karriere sich auf die Riviera zu bewegte oder ob ich schön, berühmt oder beliebt wurde — es handelte sich nur noch darum, am Leben zu bleiben. Bei den Alarmen passierte zwar noch nichts Ernstliches, aber die ständige Bedrohung erreichte doch, daß man die Welt anders wahrnahm als bisher. Man schien sogar so wichtige Dinge wie das Leben erst dann richtig zu schätzen, wenn ein anderer sie einem wegnehmen wollte.
    Das Hetzen und die vielen Verabredungen ließen nach. Kleine nebensächliche Dinge bedeuteten mehr als in normalen Zeiten: durstig sein und trinken, müde sein und schlafen dürfen, eine Melodie, die sich unvermutet einstellte, und der Geschmack der reifen Pflaumen, die ich mir morgens in die Tasche gesteckt hatte.
    Waren denn die Bäume, die Berlins Straßen säumten, jeden Oktober so schön kupfern und golden gewesen? Wenn sich ein Wind erhob, ließen ihre Blätter die Ästchen los und schwebten sanft aufs Pflaster nieder. Es war einen Augenblick lang, als stünde man auf dem Boden einer Flasche Danziger Goldwassers.
    An diesen Blätterregen aus den Baumkronen dachte ich nachts, wenn das Häusermeer sich schwarz und angstvoll duckte und ein Scheinwerferkreuz einen einzigen silbernen Punkt am Himmel beleuchtete: ein feindliches Flugzeug. Ich stand in der Tür des hölzernen Häuschens, im Schlafrock, und hörte die Kanonen bellen. Ich hätte nie gedacht, daß ein Baum etwas Tröstliches sein könnte. Das Flugzeug schien unverwundbar, die Kanonen aber schossen scharf, man merkte es an den Krümelchen, die dann und wann herunterfielen und durch die Büsche des Vorgartens zischten.
    Ausgerechnet um diese Zeit, als man den ganzen Tag über gähnte wie ein Karpfen auf dem Sande und morgens die größten und imposantesten Flaksplitter sammelte, um sie dereinst den Enkeln zu zeigen, erschien — ohne daß ich vorher im geringsten ahnungsvoll erschauert wäre — der Märchenprinz auf der Bildfläche.
    Ich hatte mir das immer so schön vorgestellt: Ich bin in Gesellschaft, ich habe mein bestes Kleid an, im Kerzenlicht tritt ein Mann auf mich zu, bei dessen Anblick mein Herz stehenbleibt — sein Auge leuchtet auf, er ergreift meine Hand...
    Es kam ganz anders. Am Gartentor klingelte es, und ich rannte zur Tür, um den Drücker zu betätigen. Ich hatte nicht mein schönstes Kleid an, sondern eine Küchenschürze, weil ich den Treppenläufer ausbürstete. Den Gartenweg entlang schritt ein Mann auf mich zu, in einem dunkelblauen Ulster. Er war etwa 1,83 groß. Höflich zog er den Hut und sagte: «Guten Tag! Unsere Freunde haben mich gebeten, hier mal nachzusehen, ob alles in Ordnung ist. Kommen Sie mit der Heizung zurecht?»
    Er sah verblüffend gut aus, hatte wundervolle Augen, aus denen er etwas kühl auf die Welt blickte, wie alle Menschen, die nicht wollen, daß man zu rasch intim mit ihnen wird, und seine Manschetten hatten die richtige Länge. Trotzdem konnte mein Herz nicht stehenbleiben, denn ich kannte ihn schon. Auf einer der rauchigen, überfüllten Cocktailpartys hatte er mit mir getanzt und mir keinen übermäßigen Eindruck gemacht. Seitdem war über ein Jahr vergangen, und erst heute fiel mir auf, daß er einen kleinen Leberfleck neben der Nase hatte, genau an der gleichen Stelle wie Papa und Bruder Leo. Darüber war ich einen Augenblick verwirrt, gab dann die nötigen Auskünfte und bat ihn herein.
    Von da an kam er öfters. Er stocherte in der Heizung, trank mit mir Kaffee und half mir, das Laub im Garten der gemeinsamen Freunde zusammenzuharken, das sich von sattem Gold rasch zu fahlem Packpapierbraun verfärbte. Morgens war es schon recht kalt, und das Ende der Straßen lag in hellblauem Nebel. Gelegentlich holte er mich auch zum Kino ab. Wir unterhielten uns sehr interessant, manchmal vergaß ich sogar zu gähnen, obwohl ich die vorige Nacht wieder mal kaum geschlafen hatte. Wenn ich schon mitten in der Beschreibung meines Lieblingsbuches oder im Zitieren eines englischen Gedichtes war, hielt ich inne und brach mit einem albernen «Das interessiert Sie sicher nicht, oder?» ab. Er saß dann meist ganz still in seinem Sessel, rauchte und betrachtete mich so

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