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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Mahlzeit eine Vitaminpille neben den Suppenteller gelegt, damit nicht zu viele krank wurden und die Heimatfront stark blieb. An das Leben mit Bezugsscheinen, Textilsammlungen, Lebensmittelkarten, Sonderzuteilungen hatte man sich gewöhnt. Kein Mensch lachte mehr, wenn einer einem erklärte: «Ab sofort können Sie Fleisch auch rechts auf die Wurstwaren kaufen!» oder «Ich schenke Ihnen einen Nähmittelpunkt, der nächste Woche aufgerufen wird!»
    Als man schon dachte, die scheußlichen Papiersäcke voller Sand aus den Treppenhäusern entfernen zu können, setzten die ersten Alarme ein. Das Geheul widerlicher, ungeheurer Harpyien, die auf den nächtlichen Dächern saßen, drang einem in den Traum, und verschlafen, wie man war, fand man seine Wäsche nicht gleich. Man war kalt und verschreckt, und es machte nicht einmal Spaß, im Luftschutzkeller festzustellen, daß Fräulein Müller aus dem dritten Stock, wie man an ihren Lockenwicklern sah, eben doch kein naturgewelltes Haar hatte. Das Tempo des Aufstehens jedoch ließ sich trainieren. Es war wichtig, unter den ersten fünf Schutzsuchenden im Keller zu sein, obwohl die Stühle, die drunten standen, nicht die besten waren. Ihre durchlöcherten, geflochtenen Sitze hatte man nach mehrstündigem Alarm als Muster auf dem verlängerten Rücken. Am nächsten Morgen litt man an Gliederschwere, Frösteln und verschwollenen Augen, einer Krankheit, die die Berliner mit ihrem treffenden Witz als «Kellerstaupe» bezeichneten. Nirgends war auch nur ein Dachziegel heruntergefallen, und man nahm sich eisern vor, das nächste Mal den Alarm zu verschlafen. Aber konnte es nicht gerade dann ernst werden? Auch beim Friseur unter der Trockenhaube, in der Badewanne und bei großen Menschenansammlungen wurde man das beklemmende Gefühl nicht los, die Sirenen auf den Dächern könnten gerade jetzt losbrüllen.
    Bald gab es in der Kantine unseres Industriepalastes am Morgen nur noch schwarzen Ersatzkaffee und einige seltsame kuchenartige Gebäcke, in die man höchstens mit Senf noch etwas Leben hätte bringen können. Dennoch war es immer noch bequemer, im Büro zu frühstücken, wo nach Alarmen die Chefs, weit draußen wohnend und ohne ihre stillgelegten Wagen zu benutzen, sehr spät eintrafen, als zu Hause eine halbe Stunde früher aufzustehen und den immer kostbarer werdenden Schlaf zu opfern. Die meisten der Kolleginnen machten es genauso.
    Einmal holte ich ein Tablett voller Tassen in der Kantine, und dabei fiel mir in dem sauber aufgeräumten Eßsaal eine Wandtafel ins Auge, auf der mit Kreide stand: «Achtung Freizeitgestaltung! Donnerstag nachmittag wieder Kursus in Kisuaheli (für Fortgeschrittene).»
    Ich hatte schon immer etwas gegen Freizeitgestaltung, da die Vorsilbe frei für mich nicht viel hinter sich duldet. Daß mein weitblickender Industriekonzern schon daran dachte, die afrikanischen Filialen in den nach dem Endsieg wieder errungenen Kolonien mit geeigneten Leuten zu besetzen, machte einen tiefen Eindruck auf mich. Ich fing an zu lachen, der Kaffee schwappte aus den Tassen und die Tränen liefen mir aus den Augen. Aus dem Glasschalter der Essensausgabe kam ein Kopf und fragte mitleidig: «Mensch, kuck mal die, die lacht schon vor Schwäche. Wie lange harn’ Se denn nu keinen Urlaub mehr jehabt?»
    «Fahren Sie mal los», sagten die Kolleginnen, und eine kleine Verkniffene setzte hinzu: «Sie brauchen doch, wie ich höre, den Quatsch hier gar nicht mitzumachen. Warum tun Sie’s eigentlich?»
    Ich hätte es ihr erklären können, aber nicht mit zwei Worten, sondern mit zweihundert, und dafür war ich zu müde. Ich packte meine Siebensachen und fuhr los. Es war gut, daß mein Koffer noch eines jener stabilen, gediegenen Gebilde war, mit denen die Eltern früher von München nach Rußland und wieder zurück gereist waren — er blieb mein einziger Sitz während der Fahrt.
    An dem Deutschland rechts und links der Eisenbahngeleise war nichts Kriegerisches zu bemerken. Einige Frauen trugen Eisenbahneruniform, und auf allen Bahnhöfen standen Schilder, daß Räder für den Sieg rollen müßten. Sonst war wenig verändert. Auf der Station, an der Bruder Leo damals die Würstchen gekauft hatte, war das gläserne Provianthäuschen geschlossen. Im Fenster lehnte ein Kartondeckel: Nur Schaupackungen. Es war schade, daß Leo und ich diesmal nicht zusammentreffen würden. Er konnte manche Situationen so treffend charakterisieren. Er hätte auch den richtigen Ausdruck für das Stadium

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