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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Ich taufte ihn Michael. Er ließ es sich gefallen. Ein Mann in seinem Gemütszustand widerspricht nicht.
    Acht Nächte hintereinander kam kein Alarm. Man verabschiedete sich abends mit dem Gruß: «Also dann, Bo-Lo-Na!» (Bombenlose Nacht), schlief tief und erholte sich. Die unvergleichlich frechen Berliner sagten bereits: «Was is’n mit die Engländer? Die komm’ ja jar nich mehr. Es wird doch nischt passiert sein?»
    Dann aber knallte und bellte es wieder von abends elf Uhr bis früh um vier. Es gab Schäden im Norden Berlins, die von den Gerüchten maßlos übertrieben wurden. Am Abend des nächsten Tages rief Mama an.
    «Ist alles in Ordnung, Kind?» fragte sie mit kleiner, ferner Stimme. Ich fühlte mich ertappt. Mama hatte immer eine sehr feine Antenne gehabt. Der Angriff war nur ein Vorwand für ihren Anruf; sie hatte damals sogar meine Halsentzündung am anderen Ende Deutschlands gewittert. «Ach, wegen des Alarms», fragte ich forsch, «den haben wir in Wilmersdorf kaum bemerkt.» Dann stockte ich, sah ein, daß ich Michaels Namen unmöglich so ohne Vorbereitungen durch den Draht jagen konnte, und sagte rasch: «Ich schreibe euch heute abend einen langen Brief.» Aber dann schob ich es doch wieder auf. Ich war noch nicht an dem Punkt, mir das Leben an Michaels Seite vorstellen zu können, bis der Tod uns schied. Dafür mischten sich nun alle diejenigen Leute in mein Dilemma, die es sich ebensowenig vorstellen konnten. Es wäre sicherlich leichter gewesen, einen tollen Blödsinn anzustellen, den niemand merkte, als etwas Vernünftiges, das sich vor aller Augen vollzog. Wieder hagelte es Ratschläge, so wie damals, als ich eine Stellung suchte.
    «Der Mann sieht mir zu gut aus», sagte die Napfkuchentante, die Michael kannte, «das ist verdächtig. Solche haben meist Weibergeschichten.»
    «Ich verstehe nicht, wieso du auch nur eine Sekunde lang zögerst», hieß es anderswo. «Der hat ein Herz von Gold. Siehst du denn nicht, wie alle grimmigen Fleischerhunde immer an ihm hochsteigen und ihm das Gesicht lecken? Das Tier hat mehr Instinkt als der Mensch.»
    «Um Gottes willen», sagte der Onkel, der so gern Patience legte, «der Mann ist ja geschieden, er hat eine Vergangenheit, und du bist noch so jung. So etwas geht niemals gut.»
    Die alte Dame, die mir seinerzeit zur Bühne geraten hatte, äugte über ihre Brille und meinte resolut: «Laß dir keinen Blödsinn einreden, mein liebes Kind. Eine Vergangenheit hat jeder Mann, nur kennt man sie meistens nicht.»
    Ich fühlte mich hin und her gerissen, mußte nachts Pulver schlucken und nahm acht Pfund ab. Wie gerne wäre ich nach Seeham entwichen, um mir diese Frage einmal in Ruhe zu überlegen, ohne andauernd durch Telefonanrufe verwirrt zu werden, in denen jemand mir mitteilte, daß er mich liebe.
    Doch es ging leider nicht. Die Züge waren gesteckt voll mit Uniformen und Hamsterern. Schon schob man, weil Eingänge und Korridore verstopft waren, alte Damen durchs Fenster ins Abteil und stahl ihnen dabei die Schuhe. Der Krieg, der so festgefahren schien, war plötzlich sehr total geworden.
    Einen ganzen Sonntagvormittag lang bemühte ich mich, den in Michael Umgetauften in einem Brief an die Eltern so genau zu beschreiben, wie es nur möglich war. Wo beginnen bei einem so ungeheuren Stoff? Es klang im übrigen derartig nach einer Heiratsanzeige, daß ich mich nur wundern konnte, daß ich mich noch nicht mit ihm hatte nottrauen lassen. Ich zerriß den Brief und begann einen neuen, in dem ich mich bemühte, die Gründe für meine Widerstände darzulegen. Auch er wanderte in den Papierkorb. Schließlich schrieb ich ein paar hastige Zeilen, in denen ich versehentlich sowohl Michaels richtigen als auch den von mir erfundenen Vornamen benutzte. Mama, die ihre Brille nicht immer gleich finden konnte, glaubte voller Schrecken, ich hätte mich mit zwei Personen zugleich verlobt.
    Ihre Antwort war gefaßt und begütigend. Sie kannte aus ihrer Mädchenzeit die Sorte Pferde, denen man die Höhe des Hindernisses nicht zeigen darf, da sie sonst ins Gebiß schäumen und steigen.
    Papa schrieb an den Rand: «Das Foto im Format sechs mal sechs, das Deinem Schreiben beilag, ist als durchaus ungenügend zu betrachten. Ich erkenne darauf einen auseinandergenommenen Radioapparat, zwei Hände, wovon die eine einen Siegelring trägt, und eine nicht uninteressante männliche Nase. Geh hin und laß Deinen Michael von jemand aufnehmen, der etwas von Fotografie versteht. Kuß

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