Ein Baum wächst übers Dach
Papa.»
Auf der Heimfahrt von der Philharmonie, wo Furtwängler eine herrliche Matthäuspassion dirigiert hatte, erwischte Michael und mich ein Alarm im U-Bahnhof Heidelberger Platz. Die Schaffner wachten streng darüber, daß alle Fahrgäste den Zug verließen. «Klar doch», sagte ein Mitreisender bissig, «wenn was passiert, müßt ihr sonst unsere Reste mit’m Suppenlöffel aus’m Waggon kratzen.»
Die ersten anderthalb Stunden gingen wir auf dem zugigen Perron auf und ab, dann wurde ich zu müde dazu. Michael setzte sich auf eine der Bänke, und ich richtete mich auf seinem Schoß ein, wo ich, von seinem um mich geschlagenen Mantel gewärmt, ausgezeichnet schlief. Als ich aufwachte, war zwar noch immer Alarm, aber mein Verstand hatte endlich mein Herz eingeholt. Heiser und mir die Augen reibend, sagte ich: «Weißt du, wir heiraten im August, da ist es schön warm in Seeham. Sind dir die Beine eingeschlafen?»
«Ja, vielleicht ein bißchen», erwiderte Michael höflich. «Schade, jetzt habe ich den Ring nicht da.»
Übrigens war ich vollständig ahnungslos, welche Falle mir das Schicksal stellte. Michael drückte mir eines Tages einen schwarzen Klemmhefter voller Manuskripte in die Hand: Ich solle das mal lesen, an meinem Urteil läge ihm viel. Als ich gar erfuhr, daß er eigentlich Schriftsteller sei, sagte ich strahlend: «Wie interessant!» In meinen Ohren ertönte nicht einmal das Rauschen, mit dem die Villa am Cap d’Antibes endgültig in den Wellen versank. Selbst Mama, die sonst so streng darüber wachte, daß ich nicht zu leicht bekleidet bei Wind war und keine Steigung hinaufradelte, erkannte diesmal die Gefahr nicht. Vielleicht war sie froh, daß dieser freie Beruf wenigstens nicht mit Ölfarbe ausgeübt wurde.
Endlich drang mein Prinz nach Oberbayern durch. Ich ahnte, daß er entweder auf dem Trittbrett oder auf den Lokomotivpuffern gereist war. Papa nahm den Autobus, um ihm bis zur kleinen Kreisstadt entgegenzufahren. Auf dem Bahnsteig kamen sie vorsichtig aufeinander zu und erkannten sich sofort. Papa, der selbst nicht klein von Wuchs ist, erhob seine Augen zu dem Kopf, den Michael ehrerbietig entblößte, und sagte halblaut: «Aha, dinarischer Einschlag.» Dann reichte er ihm die Hand und sagte: «Ich bin der Papa.»
Von Mamas Reaktionen ist verhältnismäßig wenig bekannt. Als Michael — er konnte nur gute vierundzwanzig Stunden bleiben — ihr bei seiner Abreise die Hand küßte, schenkte sie ihm einen Ring, der aus ihrer Familie stammte. Er kam sich vor wie ein Ritter, der ein Lehen erhält. Es ist anzunehmen, wenn auch nicht erwiesen, daß sie sofort danach den weißen und den schwarzen Straußenfederfächer gelüftet und neu mit Mottenpulver eingestreut hat, damit sie in Ordnung wären, wenn ich dereinst zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur mit Michael nach Schweden führe.
Während ich mich in Berlin damit beschäftigte, Kosenamen für den Mann zu erfinden, den ich bis zur goldenen Hochzeit voraussichtlich am häufigsten würde anreden müssen, war man in Seeham nicht müßig. Einige Bauerntöchter stickten nach Mamas Anweisung mein Monogramm in alle jene Handtücher, die noch heil waren. Neue kaufen konnte man nur in höchst beschränktem Umfang. Der Hochreiter-Julie vertraute Mama die beiden Steppdecken aus der Elisabethstraße und die reinleinenen Überzüge dazu an, ließ sie Knöpfe annähen und Knopflöcher machen. Die Julie aber mußte wohl zwischendurch öfters in den Stall oder auf den Heuboden — es paßte später nichts aufeinander. Fünfzehn Jahre lang verfluchte ich ihren Namen bei jedem Bettwäschewechsel.
Bruder Leo schrieb, es sei im Zuge der Aktion «Kampf dem Verderb» wirklich zu begrüßen, daß ich einer vernünftigen Verwendung zugeführt würde, fand anerkennende Worte für Michaels Mut, es mit mir aufzunehmen, und zitierte das bekannte: «Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob er auch eine Wohnung findet.»
Hier nun gab es die ersten wirklichen Überraschungen. Dem erstaunten Michael wurde der Bescheid gegeben, die meisten der zur Verfügung stehenden Wohnungen in Berlin stünden deshalb nicht zur Verfügung, weil sie für Ausgebombte bereitgehalten werden müßten, und die Häuser andererseits nach dem Endsieg zur Verbreiterung der Prachtstraßen sowieso abgerissen würden. Michael hielt diese Auskunft für eine Erfindung des Kabaretts der Komiker, mußte sich aber eines anderen belehren lassen.
Als wir endlich eine Wohnung in Aussicht hatten,
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