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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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suchte. Ich radelte so schnell ich konnte dorthin, wo ich den herabgefallenen Luftsack vermutete, und meine nautischen Berechnungen von Wind und Strömung trogen nicht. Die Hälfte des Zieles trieb nach einer Weile ins flache, schilfige Wasser, wo ich auf einem angeschwemmten Brett saß und wartend an einem Halm kaute. Es war recht schwer, das aufgeschwemmte Gebilde ohne Schere zu zerlegen. Der poröse Stoff, ein Teil weiß, ein Teil rot, wurde zu Hause mit Freude begrüßt. «Ja — jedem seine eigene Textilsammlung», sagte Papa und zupfte amüsiert an seiner Nase. Durch den roten Teil des Luftsackes preßten wir später Obstsäfte, den weißen Teil hängten wir als Scheibengardinen an die Küchentür. Ganz selten einmal hörte man in der Ferne, entschärft, fast musikalisch, das Heulen der Sirenen. Ein Eisenbahnknotenpunkt, winzig am Fuße der Berge, gab Alarm. Anstatt sich, wie in der Stadt, zu verkriechen, eilte man ans Ufer, um sich am Anblick des riesigen, leeren Himmels zu weiden und langsam zu beruhigen. Keine der peinigenden Vorstellungen von den Steinen, in die die Wände der Mietshäuser zerfallen, von der Beschaffenheit der Dachkonstruktionen, die über einem zusammenbrechen konnten, überfiel einen hier. Das Auge schweifte weit und frei — dann kehrte ich in meinen Liegestuhl zurück und las. Meinem derzeitigen Seelenzustand am angemessensten war «Heidi» von Johanna Spyri.
    Während ich meist schlief und in der Sonne döste, hatte Mama während meines ganzen Urlaubs eine unruhige Zeit. Sie dachte Tag und Nacht darüber nach, mit welchem Trick sie mich zu Hause behalten könne. Das ungemütliche Berlin dünkte sie ein ausgesprochen ungesunder Aufenthaltsort für mich, und ihr Gemüt wurde zwischen Tugend und Vorsicht hin und her gerissen. Es wäre vielleicht möglich gewesen, Mamas Herzleiden mit ärztlichen Attesten zu untermauern und mich in Seeham unabkömmlich zu machen, da mein Industriepalast ja keine scharfen Waffen her stellte und ich nicht vereidigt war. Aber ich wollte unbedingt nach Berlin zurück. Eine seltsame Unruhe, die stärker war als alle Vernunftgründe, zog mich fort. Zu meinem Erstaunen war es diesmal Papa, der mir beistand und meinte, ich gehöre an meinen Arbeitsplatz. Er holte Büchmanns Zitatenlexikon und wies Mama nach, daß auch der Mameluck Mut zeige. Mama lachte nur schwach und drehte an ihrem Ring.
    Da der gute alte Autobus noch immer nicht zu den Zeiten ging, wo man ihn brauchte, fuhr unser Viehhändler mich zur Bahn. Er hatte sowieso in der kleinen Kreisstadt zu tun. Hinten im Wagen stand ein Kalb, dem sichtlich nicht wohler war als mir. Der Viehhändler, einer der vielen Menschen, die mich seinerzeit noch hatten im Kinderwagen liegen sehen, streifte mein tränennasses, aber entschlossenes Gesicht mit einem Seitenblick, reichte mir meinen Koffer herunter und sagte freundlich-barsch: «So, jetzt hätt’ mer’s. Daß fei nix passiert drob’n, gell!» Das war der Abschied der Heimat.
     
     
     

6
     
    Das Unangenehme an der Tugend ist, daß einen niemand dafür lobt. Keiner meiner Berliner legte mir etwa mit anerkennenden Worten die Hand auf die Schulter. Es hieß vielmehr: «Bei Ihnen piept es wohl? — Kommt freiwillig wieder!»
    Ein Zimmer fand ich diesmal nicht gleich, aber das war nicht so schlimm. Freunde enthoben mich aller Sorgen, indem sie mich fürs erste in ihr leerstehendes Häuschen einluden. Sie mußten verreisen. Ich erhielt liebevolle letzte Weisungen. Wenn es brennen sollte, möge ich ruhig meine Handtasche nehmen und weggehen, das Häuschen sei aus Holz und sowieso nicht zu löschen. Darüber war ich froh, denn ich fürchtete, mich mit den Minimaxapparaten und Feuerpatschen dumm anzustellen. Auch einen Keller gab es nicht. Falls ich nervös wurde, konnte ich ja in den Vorraum der Zentralheizung hinunterflüchten. Dort war es warm und gemütlich, man hörte deutlich, wo es knallte und wo nicht, und man blieb von den Gesprächen anderer Hausgenossen verschont. Gerade der Zwang, sich Berichte über Frau Rattkes Fehlgeburt anzuhören, hatte frühere Alarme so peinigend gemacht.
    Damit ich keine Zeit hatte zu verweichlichen, begannen die Alarme schon in der ersten Nacht. Ich blieb im Bett, und wenn die Drohung allzu nahe kam, sagte ich mir Morgenstern auf. Die Entwarnung verschlief ich stets. Der Portier meines Industriepalastes sagte als Morgengruß: «Na, das war ja jestern wieder n’ Ding. Ick hab bald nich mehr jewußt, auf welchen Schinken ick mir

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