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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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gewußt, in dem der Krieg sich nun befand. Er hatte die fernen Wälder des Balkans mit denen des Warthegaus vertauscht, wo man auch Holz kaufen mußte. «Ich bin», hatte er geschrieben, «genauso im -Gau wie alle anderen Leute, die hier darauf warten, daß sich etwas ändert.» In Seeham war auf den ersten Blick tiefster Frieden. Ein leerer, offener Himmel ohne Drohungen wölbte sich gläsern von den Feldern bis zu den Bergen. Nichts Kriegswichtiges war zu sehen. Die Dampfer allerdings verkehrten nicht mehr. Ich mußte von der kleinen Kreisstadt aus den Autobus nehmen. — Das Haus hatte die grünen, buschigen Schultern hochgezogen. Eine der beiden seinerzeit aus Versehen gewachsenen Linden hatte sogar gefällt werden müssen, weil sie der anderen in die Quere kam und ihr die Figur zu verderben drohte. Der Rasen, den das geliebte Hundsvieh Ulf verunstaltet hatte, war einigermaßen dicht. Die mit Karbolineum gestrichenen Wände sahen warm und traulich aus, ja, sie waren es sogar. Ich vernahm tief befriedigt, daß die Eltern darin dem Winter gut hatten standhalten können. Selbst der Kassierer für das elektrische Licht und der Postbote hatten sich über die Temperaturen drinnen respektvoll geäußert. Einige Urlauber, die im Osten noch andere Holzhäuser gesehen und schätzen gelernt hatten, erzählten davon daheim in Seeham. Die Seehamer revidierten ihr Urteil über unser Haus.
    Manches andere Urteil jedoch, das der gesunde Menschenverstand ihnen eingab, revidierten sie nicht. Jeder Ersatzstoff hieß bei ihnen schlicht und fest «G’lump», und die «entrahmte Frischmilch» wurde hier ihres hochtönenden Namens entkleidet. Auch im Anzeiger der kleinen Kreisstadt stand zwar, wie an so vielen Stellen: «Das deutsche Volk weiß, worum es geht», aber bei den Seehamern war das gottlob nicht so sicher. Obwohl alles bewirtschaftet war, ließ mir die Nachbarin in Berücksichtigung meines vorgeschobenen Postens in der Reichshauptstadt für die Dauer meines Urlaubs täglich ein Viertel Vollmilch zukommen. Ich ging in der Dämmerung zu ihr hinüber, das Krüglein unter einem Küchentuch oder innerhalb eines Lederbeutels, falls mir der gestrenge Herr Milchwart begegnen sollte. Das Haus blinzelte aus honiggelben Augen gemütlich hinter mir her. Es erinnerte mich mitunter schmerzlich an die Katze, die wir nicht mehr hatten, und auch an den Hund Ulf, der bei seinen neuen Besitzern so bissig geworden sein sollte. Ich konnte ihn nur zu gut verstehen.
    Sorgfältig wischte die Nachbarin mit der Schürze um das gefüllte Krüglein und reichte es mir, als wären wir eine Illustration von Ludwig Richter. «Du kunntst es brauchen», sagte sie mit einem Blick auf meine Magerkeit, «an di wachst glei gar nix hin!»
    Im Herrgottswinkel staken hinter dem Kruzifix neben den etwas verstaubten geweihten Palmzweigen die Feldpostbriefe, karge Episteln von schreibungewohnter Hand. Jeder Hof Seehams hatte ein, zwei Buben draußen. Die Nachbarin ganze vier. Unbekannte Punkte des Globus, in der bayerischen Aussprache zerquetscht und unkenntlich gemacht, waren nun Orte, an denen die Gedanken den Schorschl und den Sepp zu suchen hatten — und manchmal vielleicht schon sein Grab.
    Knechte waren kaum zu kriegen. Die alten Bauern, die schon im Austraghäusl gesessen hatten, rackerten sich wieder selber ab. Der alte Lenzenvater war schon so krumm, als hätte jemand ihm «Rumpf beugen» befohlen, aber die Mistgabel regierte er dennoch ausgezeichnet. Die Buttermaschinen waren abgeholt oder versiegelt worden. Man half sich, so gut es ging. Und es ging recht gut — die Großmütter nämlich verstanden noch die alte Art des Butterausrührens und brauchten die Maschinen nicht.
    Fehlten auch die Männer in der Landwirtschaft, an Männern schlechthin war kein Mangel: eine Flakeinheit hatte sich in Seeham niedergelassen und schoß fleißig auf einen Luftsack, den ein Flugzeug über dem See hin und her zog. Die Lisi, die Resi und die Wally hatten somit doch jemanden, der ihnen hie und da ein munteres Wort zurief und wohl auch abends am Ufer mit ihnen spazierenging. Das Gebell der Flakkanonen war, je nach Windrichtung, mehr oder weniger erträglich. Die Fische im See wurden ganz verstört und laichten kaum mehr. Papa wußte zu berichten, daß sie auch nicht mehr an die Angel gingen. Sie schienen ans andere Ufer verzogen zu sein. Einmal während meiner Ferien wurde der Luftsack abgeschossen, während ich an einem sonnigen Hang in Ufernähe nach Erdbeeren

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