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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Wunschtraum, dem er abends hinter seinem fürchterlichen Glimmstengel gerne nachhing, lautete vielmehr: «Es sollte halt ein Lastwagen uns auf der Landstraße überholen und nicht merken, daß er ein riesiges Paket verliert.»
    «Und was soll denn drin sein, lauter Fett?»
    «Unsinn, zehntausend Päckchen Süßstoff. Für alles andere laß nur mich sorgen!»
    Einstweilen mußten wir uns also etwas anderes ausdenken. Als wir lange genug nachgedacht hatten, gingen Leo und ich zum Fischer und liehen uns den großen Kahn aus. Darin ruderten wir über den See ans andere Ufer, dorthin, wo der Fluß das Treibholz anschwemmte. Die Fahrt war sehr weit und man konnte manchen Gedanken in seinem Kopf hin und her wälzen, auch den, ob nicht die Tausende, die meine Erziehung gekostet hatte, an den falschen Stellen vertan worden waren. Was nützte es mir, daß ich verschiedene Höflichkeitsfloskeln für den Schluß eines spanischen Geschäftsbriefes wußte, seitenweise Victor Hugo aufsagen konnte und wußte, wie man den Marquis von Cholmondeley ausspricht? Was nützte es zu wissen, wie man das rechte Knie hinter das linke schmiegt, damit es beim Hofknicks keinen Ruck gibt? Ich war jetzt froh, wenn ich das rechte Knie an die richtige Stelle schmiegte, sobald mir der Leiterwagen im feuchten Waldboden steckenblieb.
    Es war noch ein Glück, daß ich rudern konnte. Ich tat es zäh und entschlossen, so daß mir nach einer kleinen Ewigkeit ein karges Lob meines Bruders zuteil wurde. Er hatte seine Not, den flachen breiten Kahn auf dem Kurs zu halten.
    Dort, wo das Wasser trübe wurde, wo Sandinseln und Gestrüppballen und manchmal das aufgeblähte, undefinierbare Innere einer geschlachteten Kuh auftauchten, zogen wir die Ruder ein und erhoben uns im Boot. Wir verschwendeten keinen Blick auf die urweltliche Schönheit dieses Schlammdeltas, aus dem Reiher aufstiegen. Angestrengt äugend entdeckten wir Hölzer, Bretter und Balken, die schwärzlich und furchterregend aus dem lehmigen Wasser ragten wie das Monstrum von Loch Ness. Dann aber begannen die Raffgier und die Entdeckerfreude in uns aufzulodern. Wir stiegen aus, schoben und treidelten, fischten und wateten und halfen einander mit: «Hauruck, nein, das war nichts — nochmal Hauruck!»
    Bruder Leo, in aufgekrempelter, zerlumpter Hose, die Mütze mit dem Schirm nach hinten im Genick, sah so aus, daß man ihm nicht hätte im Dunkeln begegnen mögen. Er zerrte, stemmte und drückte grimmig und sachlich. Auf dem Ufer fanden wir mancherlei, das der rasche Fluß hoch droben in den Bergen mitgenommen hatte: hölzerne Spieleisenbahnwagen für Dicki, Abortdeckel und Holzschuhe aus Tirol, ja halbe Badehütten von einem fremden Strand. Leo warf manches wieder ins Wasser, mit dem ich mich lange gequält hatte.
    «Mensch, laß das doch, du brichst dir ja das Kreuz», sagte er väterlich und nahm mir einen fetten Balken ab, den ich ins Boot zu wuchten suchte.
    «Wenn der zersägt ist — und gespalten...», keuchte ich, «können wir mit dem Holz bestimmt alle einmal warm baden.»
    «Ja, aber nur, wenn wir alle in dieselbe Wanne steigen. Das Brett da drüben laß liegen, das ist total morsch, daraus kannst du keine Geigen mehr bauen!»
    Manchmal mußte ich ihn von weither zu Hilfe rufen, wenn ich einen Stamm schon über den Bootsrand hatte und dann merkte, daß ich, bis zu den Hüften im Wasser stehend, den Wurzelballen mit unserem alten Fuchsschwanz nicht absägen konnte.
    Als das Boot so voll war, daß man nur noch mit dem Schuhlöffel in das Holzgewirr hineinschlüpfen konnte, kam die Heimfahrt. Es ging jetzt nicht nur schwerer, sondern dauerte auch länger, wie das bei den herrschenden Naturgesetzen nun einmal so ist. Der eingeklemmten Lage wegen konnten wir keine anderen Muskeln einsetzen als die Armmuskeln. Bald schien es uns, als ruderten wir mit Eßlöffeln. Zum Glück hatte ich in den letzten Jahren durch Apfelmus-Passieren und Hefeteigschlagen einen ganz netten Bizeps entwickelt, der mich nun nicht im Stich ließ. Als das heimatliche Gestade auftauchte, hatte ich das Gefühl, gleich nach dem Abendessen den Arzt wegen Nierenbeckenentzündung, Rippenquetschung und Genickstarre zu Rate ziehen zu müssen.
    Dann knirschte der Kiel auf dem Kies, und nun kam das Schlimmste: das Ausladen. Jedes Stück mußte einmal aufgewuchtet und heimgetragen werden. Es war wohl die einzige Situation, in der ich wünschte, die Eltern hätten näher ans Ufer gebaut.
    Krumm und lahm schleppten wir in unseren

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