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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Garten, was evakuierte Reisigsammler uns sonst während der Nacht- oder frühen Morgenstunden abserviert hätten. Die Dämmerung senkte sich schon auf die blassen, scharf umrissenen Berge, als wir die letzten Trümmer mit dem Ruf: «Zugleich!» neben dem Brunnendeckel zu Boden ließen. Die Familie drinnen im Haus spürte die Erschütterung und genoß das angenehme Vorgefühl auf einige gutgeheizte Wintertage.
    Aber bald ging auch dies nicht mehr. Am Himmel über dem See versammelten sich die glitzernden Schwärme der amerikanischen Flieger und starteten von hier zu ihren schlimmen Unternehmungen. Die Sicherheit Seehams schien zwar von ihnen nicht unmittelbar bedroht, aber Mamas Herzfehler ließ es nicht zu, daß wir als dunkler Punkt mitten auf der spiegelnden Fläche des Sees ein Ziel abgaben.
    Noch ein anderes machte ihr Sorge. Sie hatte irgendwo gelesen, daß man bei Annäherung feindlicher Flieger die Wäsche hereinnehmen sollte, Bleichwäsche auf Rasen sei bis hoch hinauf erkennbar. Wenn über Mittag das Brummen in der Luft anschwoll, stand sie entschlossen von ihrer Couch im Wohnzimmer auf, faltete die Decke ordentlich zusammen und trat in den Garten, wo sie die auf dem noch verbliebenen Rasenstück trocknenden Lätzchen und Hosen von Dicki einsammelte. Wir spaßten mit ihr, um sie zu beruhigen, versicherten mit Kennermiene, daß ein Fliegendreck wie Seeham von oben überhaupt nicht wahrnehmbar sei und breiteten Hosen und Lätze woanders wieder aus.
    In Richtung München verfärbte sich der Himmel immer öfter ins Aschgraue, aber Mama war kein Spielverderber, und wenn sie aus Versehen hingeschaut hatte, schwieg sie darüber, so daß wir sie nicht beruhigen mußten.
    Anders erging es den Seehamern. Auf dem großen Gebäude weiter nördlich am Ufer, das Papa als «Gast- und Fleischhauerei» bezeichnete, stand eine Sirene. Sie heulte nicht so gräßlich wie die in Berlin, sondern hatte ein mehr landwirtschaftliches Timbre, wie eine brüllende Kuh. Böse Menschen behaupteten, sie funktioniere noch mit Handbetrieb und sei drunten in der Metzgerei an die Wurstmaschine angeschlossen. Der Tageslauf wurde durch ihr Getön nirgends unterbrochen.
    Da fielen eines Tages Bomben auf die bombensichere kleine Kreisstadt. Diese Tatsache und einige energisch gehaltene Feldpostbriefe von Michael ließen uns dazu übergehen, bei Alarm eine Matratze in die Badewanne zu legen und Dicki draufzusetzen, damit er in unserem einzigen gemauerten Raum, dessen Fensterläden zudem noch nicht zersägt und verheizt waren, so gut wie splittersicher untergebracht sei. Er fand es großartig und drehte immer alle Hähne auf, so daß die Matratze bis zur Entwarnung völlig durchweichte.
    In unserem Kellergelaß wäre höchstens für eine Person und die Katze Platz gewesen, und Leo meinte, die Gefahren des Rheumatismus seien beträchtlich größer als die Chance eines Volltreffers. Um so erstaunter waren wir, als ein amerikanisches Flugzeug aus Versehen oder weil es angeschossen war, gerade über Seeham alles fallen ließ, was ihm zu viel an Bord dünkte. Es knallte unglaublich stark, die Fensterscheiben sprangen, eine Reihe von Bombentrichtern zog sich über die Äcker, und die Heiligenbilder fielen von den Wänden. Die Nachbarin war einen Augenblick im Zweifel, ob auch in diesem Falle rein menschlicher Bosheit die geweihte Wetterkerze anzuzünden sei, konnte sie dann aber in der Verwirrung nicht finden.
    Zum Glück gab es keine Opfer und nur eine Leidtragende: eine evakuierte Mutter, die ihren Badeofen auf Weißglut geheizt hatte, um ihre vier kleinen Mädchen zu baden. Die Bomben trafen Seehams Wasserreservoir, der Badeofen lief trocken und die beiden Jüngsten blieben schmutzig.
    Seeham fühlte sich nun nicht mehr so außerhalb des Kriegsgeschehens. Man verdunkelte sorgfältiger und stand viel geduldiger Schlange beim Bäcker und beim Fleischer. Jeder einzelne, der seine fünf Sinne noch beisammen hatte, hoffte glühend auf ein baldiges Ende mit Schrecken. Manchmal wehte mir der Wind einen Gesprächsfetzen zu, vor der Post oder etwas abseits von der Schlange, die beim Gärtner anstand. Es hieß da etwa: «O mei, ma sogt ja nix, aber dös is ja a Wahnsinn...» Und dann sahen sich zwei Frauen nach mir um und vestummten ängstlich. Man kannte einander ja nicht mehr. Es waren zu den Evakuierten noch die Ausgebombten und neuerdings die ersten Flüchtlinge gekommen. Mit den Evakuierten hatten die Einheimischen sich längst abgefunden. «Zeit hams, so

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