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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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vui Zeit», seufzte hie und da eine Bäuerin, die zusah, wie die Städterinnen ihre Kinder in mitgeführten Kinderwagen durchs Dorf spazierenführten. Manche von ihnen waren sogar recht beliebt, und nach der dritten gemeinsamen Kartoffelernte gehörten sie soviel wie dazu. Andere wiederum, auf Feldpostbriefe angewiesen, zogen gleich verheerenden Kometen eine glühende Spur durch die Männerschar Seehams, brachten Ehen ins Wanken und pflanzten ketzerische Gedanken in die Herzen der jungen Dirndl. Von ihrer epochemachenden Art, sich scheußlich zu frisieren, ganz zu schweigen. Noch jahrelang sah man statt der nach bayerischer Sitte geordneten Zöpfe die Geplatzteroßhaarmatratzenfrisur auf manchem Kopf, der sich nie von hinten im Spiegel besehen hatte.
    Zum ersten Male waren wir heilfroh, daß unsere Hütte so klein war. Die Wohnungskommission kam, errechnete den Luftraum, zählte die Betten und die Köpfe und ging lachend ab. Mancher Nachbar hatte es «schlechter», und an vielen Türen, auf denen früher nur die Anfangsbuchstaben der Heiligen Drei Könige mit Kreide gestanden hatten, klebte nun ein unangenehm amtlich aussehender Zettel mit der Aufschrift Beschlagnahmt.
    War dies schon nicht gerne gesehen, so wurde es doch noch viel weniger gern gesehen, wenn die Zettel entfernt wurden und die Zwangsmieter einzogen. Dennoch ging alles glatt. Es wurde uns kein Fall von Totschlag, Körperverletzung oder dergleichen bekannt. Die Seehamer hielten sich im Zaum.
    Auch die Sache mit dem Volkssturm wurde mit Ruhe hingenommen. Wacker ausschreitend marschierte das Häuflein der aller- und unwiderruflich letzten Ausgemusterten zu zwei und zwei an unserem Haus vorüber an den See und machte dort auf Kommando kehrt. Waffen besaßen sie nicht. Ich glaube auch kaum, daß einer von ihnen vorhatte, mit dem geschulterten Prügel einen Feindpanzer aufzuhalten. Die Nachbarin, die gerade Kartoffeln für die Sau kochte, blickte aus dem Küchenfenster und kommentierte die Manöver: «O mei, jetzt werd’s kriegerisch da drüb’n. Nur nauf auf mein’ Krautacker, nur nauf! Schaut’s nur grad, wie sie’s Linksum scho könna.»
    Danach befragt, in welchem Ernstfall seine Wehreinheit ausrücken würde, gab mir der Volkssturmführer, ein braver Schreinermeister, die geruhsame Antwort: «Dös is aso: Wenn i net geh, na geht neamd — und i geh net!» Damit war der Krieg für Seeham eigentlich schon entschieden, man durfte nur noch nicht darüber sprechen.
    Für eine jedoch war er noch nicht entschieden: für die neue, braune Gemeindeschwester. Sie hatte festgestellt, daß die Hausfrauen Seehams, sofern nicht in der Landwirtschaft tätig, noch nicht total genug eingesetzt waren. «Was», sagte sie entsetzt zu mir, «Sie haben ja nur ein Kind!» Ich fühlte mich so beschämt, als hätte sie Läuse auf mir entdeckt. Sie ließ mir jedoch keine Zeit, im stillen Kämmerlein eine Vermehrung meines Nachwuchses zu planen, sondern beorderte mich barsch am nächsten Montagnachmittag in die Unterklasse A der dörflichen Volksschule. Dort nahm ich mit anderen ungenügenden Müttern hinter den hochgeklappten Pultdeckeln Aufstellung. Man gab uns Binsen aus einem Korb, die wir zu Zöpfen flechten mußten. Da ich die neben mir Flechtenden für Nazis hielt, wagte ich nicht zu fragen, ob diese Zöpfe zur Tarnung von Panzern dienen sollten. Erst beim dritten Flechtstündchen erfuhr ich, daß wir sie zusammenringeln und daraus Strohsohlen für Pantoffeln nähen sollten. Nun glaubte ich klarzusehen: Die Invasion Englands war beschlossen, und dabei war natürlich ein sehr leises Auftreten nötig. Wieder wagte ich mich mit meiner Meinung nicht hervor, konnte dies doch die Wunderwaffe sein, auf die wir alle warteten.
    Eine junge Frau, die ich nicht kannte und die lange Zeit das Wort nicht an mich richtete, weil ja auch ich hätte ein Nazi sein können, gestand mir endlich, die Pantoffeln seien für Lazarette bestimmt.
    Es war gerade an dem Tage, an dem ein Feldpostbrief mir mitteilte, daß Michael zurzeit innerhalb Deutschlands bei einem Lehrgang weile, wo niemand auf ihn schoß, höchstens von oben manchmal etwas auf ihn fallen konnte. Ich war über seine relative Sicherheit so froh und vergnügt, daß ich die NS-Frauenschaftsführerin von Seeham, die gerade unsere Sohlen inspizierte, am liebsten unterm Kinn gekrault hätte: ein Impuls, der mir bis dato gänzlich fremd gewesen war. Ich konnte die Hoffnung nicht unterdrücken, daß dem größten Feldherrn aller Zeiten

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