Ein Baum wächst übers Dach
vielleicht die Puste ausgegangen sein würde, ehe der Lehrgang zu Ende war.
Mein sinnloser Optimismus teilte sich dem ganzen Hause mit. Papa lobte spontan die neue Streckbutter: ein Teil Mischfett, zwei Teile Mehl, etwas Magermilch und eine Spur gehackten Dill, und fand sie köstlich. Mama hatte für Dickis geglückten Versuch, eine Flasche Sidol auf sich zu kippen, nur die milde Mahnung: «Aber Männlein...», und Leo und ich fühlten uns beim Stapeln des zerkleinerten Seeholzes gedrängt, zweistimmig zu singen «Starke Scheite schichtet mir dort...» aus der Götterdämmerung.
Der freudige Aufschwung unserer Stimmung durfte sich jedoch nicht auf die täglichen Rationen ausdehnen. Mama stand morgens in der Küche und wog auf der Briefwaage jedem seine Brotration für den Tag zu. Nach dem Frühstück machte Papa in sein Stück zwei Kerben. Mama in das ihre eine tiefe Querrinne. Bruder Leo legte seines mit einer einzigen, leichten Handbewegung hoch oben auf die Kante des Bücherschrankes. Nur meines fuhr ohne Markierung in der Brotdose herum und war eben daran kenntlich.
Dicki beanspruchte mit der unschuldigen Unverfrorenheit des Familienjüngsten von allem das Beste. «Will das haben», rief er und kam freudestrahlend herbeigestürzt, wenn irgendwo etwas Eßbares ausgepackt oder zubereitet wurde. Zu der Mahlzeit, die man in der bürgerlichen Zeit als «Kaffee» bezeichnet hatte, kam Papa eines Tages, den Finger zwischen die Seiten eines Buches gelegt.
«Ich weiß gar nicht, was ihr andauernd habt», begann er, «ich lese euch jetzt eine Stelle aus einem Roman der Biedermeierzeit vor: Zum Überfluß, na also, da habt ihr es gehört. Und ihr macht euch mit dieser Kalorienmathematik verrückt.»
Mama lächelte schwach. «Ich bitte euch nur um eines», sagte sie, die längst nicht mehr so ruhig war, wie sie schien, «ängstigt das Kind nicht mit irgendwelchen Bemerkungen. Alles wird so oder so vorübergehen, aber das Kind soll sich nicht fürchten müssen, das ist schlecht für später.» Von Stund an hieß es, wenn die Sirene auf dem Dach der Fleischhauerei zu jodeln anfing: «Dicki komm, wir dürfen wieder mal im Bad spielen.»
«Fein», erwiderte Dicki höflich und kam mit seinem geborstenen Papierkorb voller Spielschutt angewackelt. Mama setzte sich neben die Badewanne. Papa tat die Versuche Amerikas, ihn zu zerstören, mit einer wegwerfenden Handbewegung ab und ging in sein Atelier. Er malte an einem Schneebild. Auf den Bergen jenseits des abgebildeten Tales lag noch eine bleiche Sonne, die einen schönen Tag versprach, drunten in den bläulichen Gründen, aus denen die ersten Lichter blinkten, waren aber mindestens schon zehn Grad Frost. Wen es nach Erfrischung gelüstete, der ging ins Atelier und sah zu, wie Papa den Himmel mit einem ganz feinen Pinsel an die Bergkämme ansetzte.
Diesmal jedoch gelüstete es keinen. Die Luft zitterte von dem geballten Hornissenton der Geschwader, die man nicht sah. Leo und ich schlenderten ums Haus und ich fragte ihn in etwas verkrampftem Plauderton, wie dick die Mauer ums Bad eigentlich sei. Er sei schließlich beim Bau dabeigewesen.
Leo schwieg und blies den Rauch seines fürchterlichen selbstgebauten Krauts vor sich hin. «Diese Hütte», sagte er dann und gab dem Haus einen zärtlichen Klaps, «hat etwa so viel Widerstandskraft wie eine Scheibe Pumpernickel, aber dafür liegt sie strategisch richtig, verstehst du. Ich zeige es dir nachher, wenn die Eltern schlafen.»
Es war schon ziemlich spät in der Nacht. Bei Papa war noch Licht. Er legte auf einem umgekehrten Bild eine Patience. Leo und ich stellten im Wohnzimmer ganz leise das Radio an und hörten einige Feindsender. Dann breiteten wir eine Landkarte auf dem Eßtisch aus. Ich holte den alten Zirkel, den ich im Münchner Mädchenlyzeum für meine hoffnungslosen Versuche in Mathematik benutzt hatte. Wir stachen hier, wir stachen dort, wir schlugen Kreise, maßen und verglichen. Endlich trennten wir uns mit einem geflüsterten: «Gott sei Dank, die Amerikaner werden schneller da sein als die Russen.»
Wir lagen keine Stunde im Bett, als das Haus dumpf erdröhnte und Papas Farbenmühle auf dem obersten Boden ins Schlingern kam. In meinem Dachkämmerlein hörte ich, wie Bruder Leo nebenan brummend in die Hosen fuhr. «Sakradi», bemerkte er böse, «zugehen tut’s hier wie im Krieg!»
Der müde
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