Ein Baum wächst übers Dach
Feind am Himmel aber, der nach Hause wollte, hatte den Rest seines Ballasts abgeworfen und entschwirrte über die nachtdunklen Wälder landeinwärts. Das Haus kam wieder zur Ruhe, Leo aber nicht zu allzuviel Schlaf. Er stand um halb sechs Uhr morgens auf und radelte gegen leichte Steigung und schweren Gegenwind dreißig Kilometer hin und dreißig Kilometer zurück in ein benachbartes Städtchen. Gerüchtweise verlautete, daß man dort auf Zuckermarken tatsächlich noch Zucker bekäme. Auch ich hatte eine Aussicht, und Aussichten waren das, wovon wir hauptsächlich lebten. Die heutige Aussicht führte mich in die Umgebung, in ein schönes, fernes Dorf, das ich früher immer unseren Gästen gezeigt hatte, wenn sie das bezaubernde Hinterland unseres Sommerhauses kennenlernen wollten. Dort wohnten Nonnen mit großen Flügelhauben, die zum Wohle ihrer Mitmenschen feldweise Kohlrabi und Salat anbauten. Wenn man vormittags kam, durfte man ein paar Pfund kaufen. Weil sie dem Himmel schon so nahe waren, verlangten sie dafür nichts als Geld, und davon nicht mehr, als das Gemüse im Frieden beim Gärtner gekostet hatte — und außerdem waren sie noch reizend.
Als ich Dicki gefüttert hatte und er an seine Tagesarbeit gegangen war — er trug ein altes, abmontiertes Steuerrad aus der Abfallgrube vor sich her und schrie tuut, tuut, bis er heiser war — , pumpte ich mein Fahrrad auf. Ich wickelte ziemlich viel Bindfaden um die Felge an der Stelle, wo der Fahrradschlauch sich in einem eingeklemmten Bruch durch den Fahrradmantel zwängte, und fuhr los. Jedesmal, wenn die umwickelte Stelle genau unter mir war, tat es oben am Sattel einen Ruck. Man konnte zu dieser synkopischen Fortbewegungsweise, solange niemand in der Nähe war, der noch an den Endsieg glaubte, amerikanische Jazzrhythmen pfeifen und ich tat es auch, aber nicht lange. Die großen Fahrstraßen, die mein Feldweg kreuzte, waren heute voller Lastwagen, Lärm und Soldaten. Auf einer Lichtung, unter den bemoosten Bäumen, lagen Soldaten im Gras.
«Worauf wartet ihr denn?» fragte ich.
«Auf den Frieden, mein Kind», sagte ein gemütlicher Landser.
«Wieso», fragte ich verwirrt und stieg von meinem Massageapparat ab. «Ist es soweit?»
«Klar», sagte ein anderer und spuckte zielsicher und saftig aus. «Die amerikanischen Panzerspitzen sind ja schon in München.»
Ich ließ Nonnen und Kohlrabi sein und kehrte um. In der Ferne hörte man ein grollendes Dröhnen. Es war nicht zu unterscheiden, ob es Geschützdonner, Flugzeuge, Bomben oder Panzer auf der Autobahn waren.
Von Seehams Kirchturm hing etwas langes Weißes herab: die Kapitulationsfahne. Aber nicht lange, etwa eine Stunde. Dann kam eine Einheit zum Äußersten entschlossener SS auf dem Wege zum Obersalzberg durch das Dorf und riß sie unter finsteren Drohungen ab. Gegen Abend fuhr die Einheit weiter. Der krumme Wastl, dem immer die Nase so lief, stieg murmelnd wieder auf den Kirchturm und brachte das Wahrzeichen von Seehams zersetzter Wehrmoral aufs neue an. Papa und Leo empfingen mich an der Gartenpforte. «Los», rief Leo mir zu, «steig ab, schließ das Rad im Schuppen ein und hilf mir die Radios aus dem See zu fischen, die die Lastwagensoldaten vor fünf Minuten hineingekippt haben, man kann sie noch ausschlachten.»
«Geh allein», sagte ich hastig, «im Kramladen gibt es Baumwollstoffe auf Haushaltskarte, ich muß dort anstehen.»
Papa lachte lautlos, aber amüsiert. «In Berlin, am Alexanderplatz», sagte er, «war es vergleichsweise ruhig!»
In diesem Augenblick trat ein Soldat ohne Achselstücke in den Garten und bat uns, seine beiden Pferde als Geschenk anzunehmen. Traurig mußten wir gestehen, daß auf unseren wenigen Quadratmetern ungenutzter Wiese nicht genügend Gras wüchse, um sie zu ernähren. Warum er sie nicht den Bauern gäbe? Nein, dort würden sie sofort entdeckt. Ich geriet bei dem Gedanken, daß unser vielgeprüftes Sommerhaus nun als Pferdeversteck dienen sollte, in ein überreiztes Kichern. Noch kichernd reihte ich mich in die lange Reihe der um Stoff Anstehenden. Die dritte Frau hinter mir sagte zur fünften Frau hinter mir: «Der Hitler ist tot». Die fünfte Frau reagierte überhaupt nicht. Ich dachte, sie hätte es nicht gehört. «Soso», sagte sie dann. «Sie, ich war fei gleichzeitig mit Ihnen da — Sie haben sich vorgedrängt.»
Vom Landungssteg hörte man Krachen und Brechen. Die Landser versuchten, ihre Gewehre kleinzukriegen, und warfen sie dann in den See. Im Hof
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