Ein Baum wächst übers Dach
vor der Schmiede schwelte ein Haufen Soldbücher, dieses heiligste Gut des deutschen Soldaten. Hinter jedem Busch lagen Stahlhelme und anderes Gerät, mit dem man weder kochen noch umrühren konnte, verlassen und vergessen. Jemand, der es gut mit mir meinte, hielt mich auf der Straße an und raunte mir aus größter Nähe ins Ohr, drüben bei der Flakbaracke würden die Verpflegungslager aufgelöst und morgen früh um Punkt zehn Uhr gäbe es dort auf Kinderkarte je ein Pfund Zucker pro Kind. Ich dankte für den Tip und schleppte mich nach Hause, einige Meter stark knitternden blauen Stoff mit italienischem Randdruck unterm Arm. Ich hatte nach dem stundenlangen Anstehen das Gefühl, meine Beine begännen bei den Rippen.
Zu Hause gab es leider keinen Strom, und so kam ich um die Apotheose des tausendjährigen Reiches im Radio. Ich hatte so vieles aus diesem Lautsprecher hören müssen, das ich lieber nicht gehört hätte, daß es mir aufrichtig leid tat. — Außerdem fehlte auch der Strom für die Pumpe. Da es diesmal etwas länger damit dauern konnte, versuchten wir, den verrosteten Handbetrieb in Gang zu bringen, und damit verging der ganze Nachmittag. Gegen fünf Uhr kam ein Vetter, dessen Zug in den zerbombten Gleisen der kleinen Kreisstadt liegengeblieben war und der sich unserer Adresse erinnerte. Er wußte ebensowenig wohin mit sich wie der Rest des deutschen Heeres. Wir legten eine ziemlich schlechte dreiteilige Matratze auf den Fußboden des Balkonzimmers und überließen den abendlichen edlen Wettstreit um die bessere Lagerstatt den Männern.
Der Vetter krempelte gleich die Ärmel auf und half beim Reparieren der Pumpe. Wir gossen so lange Wasser ins Steigrohr, bis das ausgetrocknete Saugleder wieder zu fassen schien; als wir dann den abgeschraubten Schwengel endlich wieder dranhatten, spie das Rohr das Wasser in die Höhe wie die Fontänen in der Villa d’Este. Bald stand die Küche fußhoch unter Wasser, was bei dem trüben Schein einer Stearinkerze Marke Haushaltsperle feenhafte Spiegelungen ergab. Dicki war dabei nicht so genau zu überwachen, er jauchzte und pantschte und verstreute meine letzte Packung Süßstoff. Jetzt, meinte Papa trocken, fehlten nur noch eine Ziege und ein paar Hühner, dann wäre das Idyll komplett.
Als es vollständig dunkel geworden war, klopfte es an der Haustür. Es kam ein bekanntes Ehepaar, das noch nicht lange in Seeham lebte, und fragte, ob es wahr sei, daß der Großteil der Familie holländische Pässe habe, und ob sie bitte bei uns über Nacht bleiben dürften. — Mama rieb mit dem Finger an der Stelle, wo früher der Ring gesessen hatte, und hieß dann auch sie willkommen. Sie legten sich auf eine Decke auf den Boden des Dachraumes und durften selbst von der anderen Seite das Brett hochklappen, was ihnen des Zugbrückeneffektes wegen ein angenehm sicheres Gefühl vermittelte. Ihr Essen hatten sie mitgebracht.
Die Nacht stieg herauf, mit den gewohnten Sternen. Mama ging schlafen, Papa ging schlafen. Der Vetter, Leo und ich standen noch einen Augenblick im Garten und lauschten auf das Dröhnen der tausend Wagen, die zwischen München und dem Obersalzberg unterwegs zu sein schienen. Was sie nur alle dort wollten?
Wir lagen nicht lange, da klopfte es wieder leise an die Haustür. Bruder Leo ging zur Tür und fragte von innen: «Wer ist da?»
«Ach bitte», tönte eine schüchterne Stimme, «machen Sie doch auf.»
Bruder Leo war um diese Stunde und unter diesen Umständen nicht geneigt, den Liebenswürdigen zu spielen. «Was heißt: machen Sie doch auf», sagte er barsch. «Was wollen Sie überhaupt?»
«Hören Sie, die Amis sind schon ungefähr fünfzig Kilometer von hier. Ich möchte gerne stiften gehen. Hätten Sie vielleicht einen zivilen Rock für mich? — Sie können auch vier Würfel Margarine dafür haben», tönte es draußen.
Leo litt schon als Kind an übergroßer Gutmütigkeit. Er schenkte dem Krieger einen Rock, der noch tadellos erhalten war, und dieser verließ uns seelisch gestärkt und beruhigt. Wir trafen ihn später wieder: Der Rock hatte ihm nichts genutzt, er war genauso ins Lager gewandert wie seine uniformierten Kameraden.
Der Motorenlärm hatte am nächsten Morgen nicht im geringsten abgenommen. Als ich um sieben Uhr zur Molkerei radelte, um Dickis Milch und unser bläuliches Magergemisch zu holen, hielt ein Lastwagen auf der Dorfstraße neben mir. «Fräulein», rief ein Kopf aus dem Führerhäuschen, «leihen Sie mir Ihr Fahrrad! Ich
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